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Versorgung im Gazastreifen Al-Schifa-Spital: Wie verhält es sich mit dem Völkerrecht?

Die humanitäre Lage im Gazastreifen spitzt sich zu. Eine juristische Aufarbeitung gestalte sich aber schwierig, so ein Experte.

Angesichts der anhaltenden Kämpfe zwischen dem israelischen Militär und der Hamas wird die Lage im Al-Schifa-Spital, der grössten Klinik im Gazastreifen, immer dramatischer. Israel sagt: Unter dem Spital solle sich eine Kommando- und Einsatzzentrale der militant-islamistischen Hamas befinden. Die Hamas verneint.

Wie verhält es sich bezüglich der Kriegshandlungen rund um das Spital mit dem Völkerrecht? Eine juristische Aufarbeitung gestalte sich schwierig, erklärt Experte Marco Sassoli.

Marco Sassòli

Professor für Völkerrecht, Universität Genf

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Sassòli ist seit 2004 Professor für Völkerrecht an der Universität Genf. Ausserdem ist er seit 2013 Kommissar der Internationalen Juristenkommission (ICJ) und seit 2021 Mitglied ihres Exekutivausschusses.

SRF News: Was schreibt das Völkerrecht vor im Umgang mit medizinischen Einrichtungen?

Marco Sassoli: Medizinische Einrichtungen, also Spitäler, dürfen nicht angegriffen werden. Sie geniessen einen sogenannten besonderen Schutz. Verglichen mit normalen zivilen Objekten bedeutet das nicht nur, dass die eine Seite sie nicht angreifen darf, sondern auch, dass die andere Seite sie nicht zu militärischen Zwecken benutzen darf.

Israel muss abwägen, wie wichtig die Ausschaltung dieses Kommandopostens ist, verglichen mit der erwarteten Anzahl von zivilen Opfern oder Verwundeten und Kranken.

Aber genau das geschieht nun offensichtlich im Gazastreifen.

Die Israeli behaupten, dass es ein Hauptquartier der Hamas unter dem Spital gibt. Wenn das der Fall ist, dann muss jedoch Israel zuerst das Spital warnen und eine Frist setzen. Und wenn die Frist unbeachtet bleibt, dann verliert das Spital den besonderen Schutz und darf angegriffen werden. Aber das Verhältnismässigkeitsprinzip bleibt anwendbar. Also muss Israel abwägen, wie wichtig die Ausschaltung dieses Kommandopostens ist, verglichen mit der erwarteten Anzahl von zivilen Opfern oder Verwundeten und Kranken.

Verletzte Person.
Legende: Ein Mann wird im Al-Schifa-Spital behandelt. (Bild vom 5. November 2023) Keystone/Abed Khaled

Gibt es Kriterien für diese Verhältnismässigkeit?

Es gibt Staaten, die behaupten, sie haben Kriterien. Diese wollen sie aber geheim halten, damit der Gegner nicht weiss, was er tun muss, damit sie nicht angreifen. Das Ganze ist schwierig abzuwägen und der militärische Nutzen äusserst abstrakt, weil es nicht das Ergebnis ist, das zählt, sondern was der Angreifer erwarten muss, wie viele Zivilpersonen also zu Schaden kommen werden. Zusätzlich muss auch berücksichtigt werden, wie einfach es ist, die Verwundeten zu evakuieren.

Beim Al-Schifa-Beispiel müsste man zur Beurteilung der Verhältnismässigkeit die israelischen Pläne kennen.

Wie verhält es sich juristisch mit Evakuierungen? Muss Israel Hand bieten, die Waffen schweigen lassen und sichere Fluchtrouten garantieren?

Das Problem ist Folgendes: Wenn die Verwundeten evakuiert und durch Gaza gefahren werden, könnten sie zufällig oder als Nebenfolge von Angriffen gegen Hamas-Kämpfer zu Schaden kommen. Also wird eine verantwortliche Sanitätsorganisation wahrscheinlich nicht evakuieren, wenn sie keine Garantie hat, dass die Strassen, durch welche die Evakuierung stattfindet, nicht beschossen werden.

Zivilisten als Schutzschild – das sagt das Völkerrecht

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«Es ist verboten, Spitäler zu militärischen Zwecken zu benutzen», sagt Völkerrechtlcher Marco Sassoli. Wenn obendrein die Absicht bestehe, damit zu verhindern, dass militärische Ziele angegriffen werden, dann sei das eine Benutzung der Zivilpersonen und der Verwundeten und Kranken als menschliche Schutzschilde. «Das ist nicht nur verboten, sondern stellt für die Individuen, die das machen, auch ein Kriegsverbrechen dar.»

Man müsse aber auch klarstellen, dass der Gazastreifen derart dicht besiedelt sei, dass die Hamas nicht in die Wüste gehen müsse, um von dort aus zu kämpfen. «Auch wenn keine Zivilisten als Schutzschilder gehalten werden würden, wird es trotzdem zu vielen Zerstörungen kommen.»

Viele Vorfälle lassen sich nicht unabhängig bestätigen. Was heisst das für die juristische Aufarbeitung dereinst?

Es ist immer schwieriger zu beurteilen, ob die Regeln über die Kampfführung eingehalten wurden als die Regeln, die man als «Genf-Recht» bezeichnet. Also über die Behandlung von Personen in der Gewalt des Gegners; die Exekution der Israeli durch die Hamas. Die meisten Kriegsverbrecherurteile betreffen solche Misshandlungen und weniger Kampfführungsregeln. Einfach weil es sehr schwierig ist festzustellen, wer welche Regeln verletzt hat. Beim Spital-Beispiel müsste man zur Beurteilung der Verhältnismässigkeit die israelischen Pläne kennen; wie wichtig es war, dieses Kommandozentrum auszuschalten. Ebenfalls müsste man wissen, was die Hamas dort getan hat.

Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.

Die Glückskette sammelt

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Legende:

Der Krieg im Nahen Osten hat bereits Tausende von Menschenleben gekostet, grösstenteils Zivilpersonen. Die Glückskette ruft zur Solidarität auf, um der Zivilbevölkerung zu helfen. Sie unterstützt ihre Schweizer Partnerorganisationen vor Ort – sie hilft dort, wo die humanitären Bedürfnisse am grössten sind.

Spenden für die Sammlung «Humanitäre Krise im Nahen Osten» können auf www.glueckskette.ch getätigt werden.

Echo der Zeit, 13.11.2023, 18:00 Uhr ; 

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