Noch nie waren so viele Menschen im eigenen Land auf der Flucht wie im vergangenen Jahr: Weltweit sind es laut der Beobachtungsstelle für Binnenvertriebene in Genf fast 76 Millionen. Grund dafür sind aktuelle Kriege wie im Gazastreifen, in der Ukraine oder im Sudan. Aber auch Krisen, die derzeit kaum mehr Schlagzeilen machen – wie etwa in Syrien: Mit über sieben Millionen Menschen gehört Syrien zu den Ländern mit den meisten Binnenvertriebenen auf der Welt. Nahost-Expertin Bente Scheller sagt, wie es den Menschen im kriegsversehrten Land geht.
SRF News: Im letzten Jahr hat die Zahl der Binnenvertriebenen in Syrien erstmals seit 2019 wieder zugenommen. Besonders betroffen sind Provinzen im Nordwesten, Idlib und Aleppo. Was sind die Gründe dafür?
Bente Scheller: Das liegt auch am schweren Erdbeben von 2023. Die Naturkatastrophe ist zum politischen Konflikt dazu gekommen. Gleichzeitig wurde in der Türkei die Stimmung gegen Geflüchtete aus Syrien sehr stark geschürt. Im Zuge der letztjährigen Wahlen und des Wahlkampfs wurden sehr viele Menschen nach Syrien zurückgedrängt oder sie haben beschlossen, freiwillig zurückzukehren. Eine solche Bedrohung der syrischen Geflüchteten lässt sich im Moment auch im Libanon beobachten.
Welche Rolle spielt der Bürgerkrieg in Syrien mit Idlib als letzter Bastion der Rebellen?
Der Konflikt in Syrien ist derart eingefroren, dass sich viele Menschen nicht dorthin zurückbewegen können, wo sie einmal hergekommen sind. Auch aus anderen Landesteilen wurden immer wieder Menschen nach Idlib deportiert. Aus dem Umland von Damaskus kamen ebenfalls Menschen, als die syrische Armee dort eingerückt ist. Es gibt also Unzählige, die schon seit Jahren als Geflüchtete im eigenen Land leben. Hier zeichnet sich auch keine Lösung ab, denn Präsident Baschar al-Assad möchte diese Menschen nicht zurückkehren lassen.
Ist die Lage im Rest des Landes etwas weniger angespannt?
Dort ist es weniger konfliktträchtig. Sozial und ökonomisch ist die Situation aber sehr angespannt. 90 Prozent der Menschen in Syrien leben unter der Armutsgrenze. In einzelnen Landesteilen flackern deswegen auch immer wieder Spannungen auf, aktuell gerade im Süden in der Provinz Suweida. Zum Glück ist das aber nicht mit weiteren Vertreibungen einhergegangen.
Das System ist noch sehr viel korrupter und menschenfeindlicher geworden, als es ohnehin schon war.
Was bedeutet es konkret, wenn solche Spannungen aufflackern?
Weiterhin trauen sich Leute, zu protestieren. Darin spiegelt sich die Misere wider, in der sich die syrische Bevölkerung befindet. Der Konflikt begann ja damit, dass Menschen gegen die Herrschaft von Al-Assad aufgestanden sind. Er sitzt weiterhin fest im Sattel. Das System ist noch sehr viel korrupter und menschenfeindlicher geworden, als es ohnehin schon war. Hunderttausende sind verschwunden, die meisten von ihnen in Gefängnissen des Regimes.
Viele Menschen sind seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs innerhalb Syriens auf der Flucht. Haben sie noch Hoffnung, dass sie irgendwann wieder in ihr Zuhause zurückkehren können?
Anfangs haben sehr viele Menschen ausgeharrt. Auch, als der Krieg schon wirklich tobte und das Regime mit aller Macht gegen die Bürger vorging. Erst 2013, zwei Jahre nach dem Kriegsausbruch, sind viele gegangen. Inzwischen haben viele der Menschen, die seit zehn und mehr Jahren an einem anderen Ort leben, die Hoffnung aufgegeben. Es gibt auch viele Kinder, die überhaupt keine oder kaum Schulbildung genossen haben. Das senkt auch die Chancen auf ein besseres Leben.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.