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Vertriebene in der Ukraine «Ich bin Marina, ich bin aus Charkiw»

Lwiw ist Zufluchtsort für viele Vertriebene in der Ukraine. Auch für die 20-jährige Marina mit psychischer Behinderung.

Marina ist stolz auf ihr Zimmer und will es allen zeigen. Es befindet sich im ersten Stock einer hellen, freundlichen Wohnung in einem ruhigen Quartier der Stadt Lwiw in der Westukraine. Marina zeigt auf ihr Bett, auf die Zeichnungen, die sie gemalt hat – aber vor allem auf den grossen Fernseher über der weiss gestrichenen Kommode an der Wand.

Alles zurückgelassen

Marina mag Musik. In der Nacht schaltet sie manchmal das Radio ein – es beruhige sie, wenn sie Angst habe oder sich allein fühle. Und das geschieht oft. Die 20-Jährige hat nicht nur mit Panikattacken und ihrer psychischen Behinderung zu kämpfen. Sie musste wegen der russischen Angriffe auch ihre Heimatstadt Hals über Kopf verlassen, die ostukrainische Grossstadt Charkiw, wo sie damals in einer psychiatrischen Klinik untergebracht war.

Marina
Legende: Marina mit Betreuerin Ljudmyla Annych. SRF/Judith Huber

Nun lebt sie in einer begleiteten Wohngruppe in Lwiw in der Westukraine zusammen mit zwei jungen Männern. Die drei werden von einem Team von Betreuerinnen umsorgt, darunter Ljudmyla Annych.

Wir wissen hier nichts über Marinas Hintergrund und nichts über ihre Krankengeschichte.
Autor: Ljudmyla Annych Betreuerin, Projekt für betreutes Wohnen in Lwiw

Diese berichtet vom grossen Stress von Marina durch die Evakuierung: «Sie konnte absolut nichts mitnehmen, sogar ihr geliebtes Mobiltelefon ist in der Hektik liegengeblieben.» Ohne Geschichte sei Marina gekommen. Über Marinas Hintergrund und Krankengeschichte sei nichts bekannt.

Doch Marina hatte Glück im Unglück. Sie ist nun in einem liebevollen Umfeld, das ihr ein einigermassen normales Leben ermöglichen will. In einem der ersten Projekte mit betreutem Wohnen, wie Ljudmyla Annych erklärt. Noch immer seien in der Ukraine psychisch Kranke vor allem in Heimen und Kliniken untergebracht, auch wenn das Land von dieser Praxis wegkommen wolle.

Das bedeutet für die zu Pflegenden unter anderem keine Strafen wie im Heim, etwas Privatsphäre und einen einigermassen normalen Alltag: Zusammen kochen, putzen und abwaschen. Die betreute Wohngruppe existiert seit Frühling, und im August soll eine zweite eröffnet werden.

Lwiw: 150'000 Vertriebene dauerhaft aufgenommen

Denn die Westukraine und vor allem Lwiw ist Vorreiterin, was die Reform der Psychiatrie in der Ukraine anbelangt. Unterstützt wird das Projekt unter anderem mit Geld aus der Schweiz – von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Deza.

Doch der Krieg überlagert alles, die humanitäre Notlage ist gross. Lwiw trägt einen Teil der Last. Es hat rund 150’000 intern Vertriebene dauerhaft aufgenommen und war temporärer Zufluchtsort für bis zu fünf Millionen Menschen, die dann aber weitergezogen sind.

Es gibt niemanden in der Stadt, der in den ersten Kriegstagen nicht die Tür für Vertriebene geöffnet hat.
Autor: Ljudmyla Annych Betreuerin, Projekt für betreutes Wohnen in Lwiw

Lwiw werde weniger stark angegriffen als andere Städte und habe deshalb eine besondere Mission, sagt Betreuerin Ljudmyla Annych: «Es gibt niemanden in der Stadt, der in den ersten Kriegstagen nicht die Tür für Vertriebene geöffnet hat. Alle helfen nach Kräften und machen sich nützlich, um dem Land zu helfen.»

Mykola und Michael.
Legende: Mykola bringt ein Ständchen. Neben ihm sein Mitbewohner Michael. SRF/Judith Huber

Inzwischen haben die beiden jungen Männer und auch Marina das SRF-Mikrofon entdeckt. Mykola, einer der Bewohner, gibt ein Lied zum Besten. Und Marina, die zwischen Redseligkeit, Fröhlichkeit und Angst schwankt, sagt schliesslich schüchtern: «Ich bin Marina, ich bin aus Charkiw.»

Rendez-vous, 08.08.2023, 12:30 Uhr

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