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Volksabstimmung in Russland Demokratie à la Putin

Der Kreml lässt das Volk über eine neue Verfassung abstimmen. Der Urnengang, der heute Donnerstag beginnt, ist alles andere als fair.

Demokraten müssten eigentlich für eine Volksabstimmung sein. Aber mit der Abstimmung über die neue russische Verfassung ist etwas faul, wenn man Nikolaj Rybakow glaubt, dem Chef der liberalen Jabloko-Partei. «Das Vorgehen der Regierung ist verfassungswidrig», sagt er.

Harte Worte vom Chef einer sonst besonnenen Partei. Jabloko, die älteste demokratische Kraft Russlands, wird die Verfassungsabstimmung boykottieren. Rybakow kritisiert, bei der Vorlage gehe es nur darum, «dass Putin für immer an der Macht bleiben darf.» Tatsächlich kann der Präsident mit der neuen Verfassung bis 2036 weiter regieren.

«Es gibt niemanden, der Putin ersetzen kann»

Allerdings teilen nicht alle diese Kritik. Szenenwechsel: In einem Einkaufszentrum im Provinzstädtchen Serpuchow haben Sergej und Mohamed gerade ihren Stand eingerichtet. «Unser Land, unsere Verfassung, unsere Entscheidung», steht auf einem grossen Plakat. «Wir haben hier Informationen über alle Verfassungsänderungen», sagt Sergej und zeigt auf Flugblätter. «Für würdige Renten» – «Für eine gute medizinische Versorgung» – «Für die Rechte von Arbeitern». Das sind die Losungen.

Darum geht es bei der Verfassungsreform

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Portrait von Wladimir Putin.
Legende: Reuters

Wladimir Putin hatte im Januar angeregt, die russische Verfassung zu reformieren. Wochenlang reichten kremlnahe Kreise daraufhin Vorschläge ein. Nun wird das wichtigste Gesetz des Landes in einer Vielzahl von Punkten geändert.

Dabei ist viel Symbolik: Russland bekennt sich in dem Text zum Glauben an Gott – und erklärt feierlich, die historische Wahrheit zu verteidigen. Darüber hinaus gibt es aber auch sehr konkrete Änderungen: So gibt es ein Verbot für hohe Beamte, eine zweite Staatsbürgerschaft zu besitzen – oder die Vorschrift, dass die Renten künftig automatisch der Inflation angepasst werden.

Ein weiterer wichtiger – der wohl wichtigste – Punkt: Der amtierende Präsident darf mit der neuen Verfassung zwei weitere Amtszeiten regieren. Das heisst: Putin könnte bis 2036 an der Macht bleiben.

Umstritten ist die Volksabstimmung, die heute beginnt und bis am 1. Juli dauert. Denn die neue Verfassung ist vom Parlament in Moskau verabschiedet und von Putin unterzeichnet. Laut Gesetz ist sie somit bereits in Kraft – obwohl das Volk noch gar nicht Ja dazu gesagt hat. Mindestens sehen das die Kritiker so und sagen, die Volksabstimmung sei nur Show, sie habe juristisch gar keine Bedeutung. Der Kreml dagegen erklärt, die Verfassung trete nur in Kraft, wenn das Volk zustimme.

Sergej und Mohamed sind «Freiwillige der Verfassung». So nennt sich eine staatsnahe Jugendorganisation, die hinter der Abstimmungskampagne steht. «Wir sind nicht da, um für oder gegen die neue Verfassung zu werben. Wir liefern nur Informationen.»

Es ist eine Neutralität, die nur auf dem Papier existiert. Denn natürlich ist Sergej, der für die Stadtverwaltung von Serpuchow arbeitet, für die neue Verfassung. Und wie ist es mit der Regelung, dass Präsident Putin bis 2036 weiter regieren darf? Sergejs Kollege Mohamed: «Wladimir Putin ist mein Präsident. Es gibt niemanden, der ihn ersetzen kann.»

Keine Nein-Kampagne

Es gehört zu den Besonderheiten dieser Volksabstimmung, dass es nur diese offiziöse Kampagne für die neue Verfassung gibt. Eine Nein-Kampagne gibt es nicht, dies sei rechtlich nicht vorgesehen, argumentieren die Behörden. Demokratische Fairness sieht anders aus.

Doch trotz der einseitigen Information sind viele im Volk skeptisch. Zum Beispiel zwei junge Mädchen, die vor Sergejs und Mohameds Stand Handyfotos machen – und mit den Daumen nach unten zeigen. «Wir sind gegen die Verfassung», sagen die beiden.

Sie vermuten, dass die zahlreichen Änderungen nur vorgeschoben sind, um Putins Griff nach einer ewigen Regentschaft zu verschleiern. Die beiden Teenager bringen den Kern der Abstimmung auf den Punkt: Geht es nur um Putins Herrschaft – oder ist es eine sinnvolle Reform der Verfassung?

Frau mit Maske sitzt hinter ihrer Kleiderauslage am Boden. Im Hintergrund ein grosses Abstimmungsplakat.
Legende: «Die landesweite Abstimmung; 1. Juli; Unsere Verfassung»: So soll das russische Volk zur Teilnahme an der Abstimmung über die Verfassungsänderung animiert werden. Reuters

Ein Mann um die 50 unterstützt die Vorlage, obwohl er die Details nicht kennt. «So genau weiss ich das nicht, aber ich bin dafür. Ich vertraue unserem Präsidenten.»

Die Menschen wissen, dass es sowieso nicht sie sind, die die Entscheidungen fällen.
Autor: Julia Nikolaewa Journalistin

Umfragen regierungsnaher Institute sehen landesweit eine Mehrheit für die neue Verfassung. In Serpuchows Strassen scheint eine Mehrheit eher dagegen oder gleichgültig.

Die kritische Serpuchower Journalistin Julia Nikolaewa sagt über ihre Mitbürger: «Die meisten Leute sind apolitisch, denn es gibt einen tiefen Graben zwischen Staatsmacht und Gesellschaft. Die Menschen wissen, dass es sowieso nicht sie sind, die die Entscheidungen fällen.»

Das ist wohl das Problem: In einem Land, in dem seit 20 Jahren alle Macht im Kreml zusammenläuft, kann man nicht einfach so eines Tages eine Abstimmung machen – und glauben, man erfahre so den Volkswillen.

SRF 4 News, 25.06.2020, 08.13 Uhr

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