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Wahlen in Neuseeland Jacinda Ardern: von der Starpolitikerin zur «Persona non grata»

Am 14. Oktober wählt Neuseeland ein neues Parlament. Damit könnte eine sechsjährige Phase progressiver Politik enden.

Es ist Zeit für die abendliche Tombola im Pub der neuseeländischen Stadt Hawera. Während Lammkoteletts verlost werden, wird über das Wetter geplaudert. Und die Wahlen. Am Tisch sitzt auch Clare Bishop. Frage an die Milchbäuerin: Wo ist Jacinda Ardern? «Ich weiss es nicht», sagt die Mittfünfzigerin, «aber ich bin froh, dass sie weg ist. Sie war nicht gut für unser Land.»

Jacinda Ardern während der Eröffnung des 76. World Health Assembly der UNO in Genf.
Legende: Jacinda Ardern während der Eröffnung des 76. World Health Assembly der UNO in Genf. Keystone/GABRIEL MONNET

Auf einer Fahrt durch die Nordinsel sieht man kein Anzeichen von Jacinda Ardern. Auf keinem Wahlplakat strahlt sie einem entgegen, sie tritt nicht auf. Es sei offensichtlich, meinte ein Kommentator jüngst: Die einst vielleicht beliebteste Regierungschefin der Welt ist für ihre Partei heute toxisch. Man sucht jedenfalls lange, bis man jemanden findet, der ein nettes Wort über sie sagen möchte.

Reaktion auf Christchurch verärgerte Konservative

Dabei hatte in den letzten Jahren kaum eine Politikerin die Welt so inspiriert. Als sie 2017 an die Macht kam, war die 37-Jährige die jüngste Regierungschefin der Welt. Sie wurde zum Vorbild für viele junge Frauen. 2018 brachte sie ihr Baby in die UNO-Generalversammlung und stillte es in den Sitzungspausen. Alles schien möglich für Jacinda Ardern. Bis zur Katastrophe von Christchurch.

Am 15. März 2019 erschoss ein rassistisch motivierter Australier in zwei Moscheen 51 Menschen.

Ihre Reaktion sei für die Premierministerin vielleicht der Anfang vom Ende gewesen, denkt die Politikkommentatorin Heather Ramsay. Ardern hatte ein islamisches Kopftuch angezogen, um Solidarität zu zeigen, und kurz darauf ein Verbot für bestimmte Hochleistungsgewehre verhängt.

Jacinda Ardern trägt ein Kopftuch und spricht mit einem Kind.
Legende: Nach dem Attentat trat Jacinda Ardern im Kopftuch auf. Keystone/MARK BAKER

Das hätte die konservativen Elemente in Neuseeland in Rage gebracht. Seither wird eine Zunahme der Angriffe gegen Politikerinnen festgestellt.

(Wahl-)Kampf gegen Frauen

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Eine Kandidatin, die nach einer öffentlichen Debatte geohrfeigt wird, eine andere, deren Heim verwüstet wird, ein Mann, der unbefugt in dasselbe Haus eindringt. Schreie und Spott gegen eine andere Kandidatin, weil sie in der Sprache der Maori spricht – der Wahlkampf in Neuseeland scheint auch ein Kampf gegen Frauen zu sein. Zu diesem Schluss kommt Cassandra Mudgway, Rechtsdozentin an der University of Canterbury in Christchurch.

«Berichte über Beschimpfungen, Drohungen und Gewalt auf der Wahlkampftour sollten niemanden überraschen», schreibt die Akademikerin. In den letzten fünf Jahren hätten Politikerinnen immer wieder über die oft gewalttätigen und sexistischen Belästigungen gesprochen, denen sie online ausgesetzt seien. In einer Untersuchung wurde festgestellt, dass Online-Belästigung und -Beschimpfung von Abgeordneten durch Mitglieder der Öffentlichkeit, einschliesslich sexistischer und gewalttätiger Drohungen, immer häufiger vorkommen und sogar als normal akzeptiert würden.

Es habe in Neuseeland zwar erhebliche Verbesserungen bei der Bekämpfung von Mobbing am Arbeitsplatz gegeben, so Mudgway, «aber im Wesentlichen wurde nichts gegen Online-Mobbing unternommen». Dies sei «besonders besorgniserregend, wenn man bedenkt, dass gewalttätiges Online-Verhalten manche Menschen dazu ermutigen kann, dieses Verhalten auch im wirklichen Leben auszuüben». Unabhängig davon, welche Partei oder Koalition die nächste Regierung bilde, sollte sie «dringend gegen geschlechtsspezifische Gewalt vorgehen, sowohl online als auch offline», fordert die Akademikerin. Die Regierung müsste den rechtlichen Rahmen überarbeiten, «um Frauen besser zu schützen, und Wege finden, um die breite Öffentlichkeit dafür zu gewinnen, diesen Missbrauch gesellschaftlich inakzeptabel zu machen». (uw.)

Mit der Covid-Pandemie kam die nächste Bewährungsprobe. Die Politik Neuseelands wurde dank Abschottung weltweit als Erfolg bewertet. Die harte Impfpolitik aber spaltete das Land. Die Folgen der Quasi-Stilllegung der Wirtschaft sind bis heute spürbar. Schwaches Wachstum, Inflation und eskalierende Lebenshaltungskosten. Auch die Enttäuschung über nicht eingehaltene Wahlversprechen drückten auf Arderns Popularitätswerte. Kinderarmut und extreme Wohnungsnot bleiben bestehen.

Bauern klagen über Lawine von Vorschriften

Für die Landwirtschaft der wohl grösste Kritikpunkt ist die Umwelt- und Klimapolitik. Das Land sollte zum Vorreiter im Klimaschutz werden. Denn der Inselstaat ist alles andere als grün. Es sind nicht nur hohe CO₂-Emissionen: Viele Gewässer sind vergiftet von der Jauche von sechs Millionen Kühen. Sie sind die Grundlage für eine lukrative Exportindustrie – Milchpulver für China.

Mein Sohn hat schon gesagt: Wenn das passiert, wandere ich aus.
Autor: Clare Bishop Bäuerin

Bauern klagten über eine Lawine von Vorschriften und Kosten. Weitere Massnahmen zur Drosselung der Klimagase aus der Landwirtschaft sind geplant. Der Gedanke an eine Wiederwahl der Labour-Partei sei für sie deshalb ein Albtraum, so die Bäuerin Clare Bishop. «Mein Sohn hat schon gesagt: Wenn das passiert, wandere ich aus.»

Stimmen die Prognosen, sollte die Landwirtin zu den Gewinnerinnen der Wahlen gehören. Labour dürfte die Macht an eine Rechts-der-Mitte-Koalition unter Führung der Nationalpartei mit ihrem Chef Chris Luxon verlieren, den streng religiösen ehemaligen Chef der Fluglinie Air New Zealand. Beobachter glauben, der Konservative werde den Grossteil der Entscheide aus der Ära Ardern abschwächen oder gar rückgängig machen.

Echo der Zeit, 11.10.2023, 18 Uhr

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