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Wahlen in Schweden Die neue nordische Kompromisslosigkeit

Bei den Wahlen vom Sonntag geht es in Schweden um mehr als um die Regierungsmacht. Dabei stehen sich in wichtigen politischen Fragen wie der Kriminalitätsbekämpfung und der Energieversorgung zunehmend zwei ideologische unversöhnliche Blöcke gegenüber.

Eine Fahrt mit der Strassenbahn Nummer Fünf in Göteborg zeigt die Problematik von Schweden: Die Reise beginnt in den wohlhabenden Villenquartieren im Südosten Göteborgs, geht weiter durch das geschäftige Stadtzentrum und führt dann schliesslich über eine imposante Brücke auf die Insel Hisingen. Dort befinden sich Quartiere, die zu einem überwiegenden Teil von Menschen bewohnt werden, die von ausserhalb Europas nach Schweden gezogen sind. In anderen Worten: Göteborg an der schwedischen Westküste ist heute eine stark segregierte Stadt.

Länsmansgården ist ein solches Quartier auf der Insel Hisingen – mit fast 15'000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Vor dem einzigen Lebensmittelladen des Stadtteils steht eine junge Frau und informiert Passantinnen und Passanten über die bevorstehenden Wahlen. Im Auftrag des Quartiervereins.  Die 25 Jahre alte Studentin Salha Abdukadir ist als Kleinkind mit ihrer Familie aus dem kriegsgeplagten Somalia nach Schweden gekommen. Sie berichtet von der zunehmenden Gewalt in ihrem Stadtteil, die viele Menschen dazu bewegt, kaum noch aus dem Haus zu gehen.

Wahlplakat der Schwedendemokraten.
Legende: «Schweden wird gut sein»: Die nationalkonservativen Schwedendemokraten werben auch im Göteborger Stadtteil Länsmansgården für sich. SRF/Bruno Kaufmann

Bandenkrieg am helllichten Tag

«Hier vor diesem Geschäft wurde ein junger Mann vor wenigen Wochen am helllichten Tag brutal ermordet», sagt Salha Abdukadir. Nicht nur in Länsmansgården im Norden von Göteborg, sondern auch in vielen anderen segregierten Quartieren grösserer Städte kam es in der jüngsten Vergangenheit wiederholt zu Schiessereien und Gewalttaten rivalisierender Banden und Gangs.

Salha Abdukadir.
Legende: Salha Abdukadir floh als Kleinkind aus dem kriegsgeplagten Somalia nach Schweden. SRF/Bruno Kaufmann

Für den erfahrenen Polizisten Christer Fuxborg geht es bei der zunehmenden Waffengewalt in Schwedens Vorstädten vor allem um ein Thema:  «Der Drogenhandel ist in den letzten Jahren explodiert. Verschiedene organisierte Banden machen sich das lukrative Geschäft streitig und bekämpfen sich mit immer brutaleren Methoden», berichtet Christer Fuxborg, der im letzten Jahr erleben musste, wie einer seiner Kollegen von einem flüchtenden Drogenkurier in Länsmansgården ermordet wurde.

Repressivste Drogenpolitik Europas

Schwedens Drogenpolitik gehört zu den repressivsten in Europa. So wird nicht zwischen harten und weichen Drogen unterschieden. Niemand wagt jedoch im aktuellen Wahlkampf die Möglichkeit einer Liberalisierung zu thematisieren. Stattdessen überbieten sich die politischen Parteien mit Massnahmenpaketen zur Bekämpfung der Kriminalität. Dazu gehören auch Vorschläge zum Abriss gewaltgeplagter Quartiere und der Zwangsumsiedlung bestimmter Bevölkerungsgruppen.

Christer Fuxborg.
Legende: Dem Polizisten Christer Fuxborg macht der zunehmende Drogenhandel in Göteborg zu schaffen. SRF/Bruno Kaufmann

«Keine gute Ideen», findet der Chef des öffentlich-rechtlichen Immobilienkonzerns Poseidon, Daniel Lagerås: «Statt etwas abzureissen, bauen wir hier etwas auf, die Stadt der Zukunft, in der sich alle Menschen wohlfühlen können», erklärt Lagerås, dessen Unternehmen fast alle Immobilien im Stadtteil Länsmansgården besitzt. Mit Unterstützung der Stadt Göteborg werden gegenwärtig Millionen in die Renovation dieses Stadtteiles gesteckt. Gebaut wurde er in den 1960er-Jahren ursprünglich für die Industriearbeiter einer Volvo-Fabrik.

Junge wollen Perspektiven – und Strafen

Dabei lassen sich die über Jahrzehnte entstandenen Probleme natürlich nicht über Nacht lösen. So fordert auch der 17 Jahre alte Schüler Azzam Alayoubi, der im betroffenen Stadtteil lebt, verschiedene Massnahmen: «Die junge Generation muss aktiviert werden und Chancen für einen Job bekommen. Aber es braucht auch härtere Strafen vor allem für junge Kriminelle», sagt Alayoubi, der vor fünf Jahren mit seiner Familie aus Syrien nach Göteborg gekommen ist und jetzt in Länsmansgården lebt.

Azzam Alayoubi.
Legende: Azzam Alayoubi floh vor fünf Jahren aus Syrien nach Schweden. Er fordert härtere Strafen für kriminelle Jugendliche. SRF/Bruno Kaufmann

Schweden ist sich einig, dass die organisierte Drogenkriminalität ein grosses Problem ist. Wie es gelöst werden soll, darüber herrscht aber vor den Wahlen vom Sonntag eine grosse Uneinigkeit. Die regierenden Sozialdemokraten tun sich sehr schwer damit, jungen Menschen den Eintritt ins Arbeitsleben zu erleichtern. Das von den Gewerkschaften hochgehaltene Arbeitsrecht trägt dazu bei. Im Oppositionslager heizen derweilen die nationalistischen Schwedendemokraten die Stimmung gegen aus dem Ausland eingewanderte Bevölkerungsgruppen auf.

Vor den Wahlen vom Sonntag zeigen sich die verschiedenen politischen Lager in Schweden betont und für das Land untypisch kompromisslos.  

Energie: Wasser, Wind und Atome

Auch in Schweden handelt die politische Debatte gegenwärtig sehr stark von den gestiegenen Energiepreisen. «Wir stehen vor einem Kriegswinter», warnte die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson in der abschliessenden Wahldebatte des öffentlich-rechtlichen schwedischen Fernsehens SVT und setzte noch einen drauf: «Putin darf uns nicht entzweien.»

Magdalena Andersson und Ulf Kristersson während eines TV-Duells.
Legende: Keine Kompromisse: Schwedens sozialdemokratische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson und ihr konservativer Herausforderer Ulf Kristersson. KEYSTONE/EPA TT NEWS AGENCY/CHRISTINE OLSSON

Der konservative Anwärter auf Anderssons Posten, Ulf Kristersson, machte hingegen die Sozialdemokratin für die explorierenden Strompreise verantwortlich: «Die Abschaltung von vier Atomreaktoren in den letzten vier Jahren hat uns erst in diese Situation versetzt.» 2016 einigte sich die sozialdemokratische Minderheitenregierung mit Blick auf das Pariser Klimaabkommen mit anderen Parteien im Parlament – darunter auch die Konservativen – auf einen nuklearen Ausstiegsfahrplan bis um Jahre 2040.

Renaissance der Atomkraft?

Im aktuellen Wahlkampf aber fordern nun drei bürgerliche Oppositionsparteien gemeinsam mit den nationalkonservativen Schwedendemokraten, welche das internationale Klimaabkommen ablehnen, eine Renaissance für die Atomenergie. Diese stand in den letzten Jahrzehnten gemeinsam mit der Wasserkraft für die Stromgrundversorgung im grössten nordischen Land.

Allerdings sprach sich bereits 1980 eine klare Mehrheit der Schwedinnen und Schweden in einer Volksabstimmung für einen schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie aus. An einer Wiederholung dieses Volksentscheides waren seither wegen parteiinternen Uneinigkeiten weder die Sozialdemokraten noch die bürgerlichen Parteien interessiert. Stattdessen wurden immer wieder – wie zuletzt vor sechs Jahren – grosse parlamentarische Kompromisse geschmiedet. Wie bei der Kriminalitätsbekämpfung stehen sich aber auch in der Energiefrage gegenwärtig zwei ideologisch unversöhnliche Blöcke gegenüber.

Standort für nukleares Tiefenlager

Dabei macht ein Augenschein am grössten nuklearen Standort Schwedens in Forsmark, 140 Kilometer nördlich von Stockholm, deutlich, dass auch gemeinsame Lösungen möglich sind: etwa in der Frage eines nuklearen Tiefenlagers für hoch radioaktive Abfälle. «Wir sind bereit, für die Lagerung dieser Abfälle Verantwortung zu übernehmen», sagt Jacob Spangenberg, bürgerlicher Bürgermeister der Gemeinde Östhammar, wo nicht nur die drei Kernreaktoren des Forsmark-AKWs stehen, sondern in den kommenden Jahren auch das erste Tiefenlager gebaut werden soll. Ein fast zwei Jahrzehnte dauernder Verständigungsprozess zwischen Atomindustrie, Behörden und Lokalbevölkerung ging dieser Anfang Jahr eingegangenen Vereinbarung voraus.

Blick auf das nördlich von Stockholm gelegene AKW Forsmark.
Legende: Das Kernkraftwerk Frosmark ist das grösste der drei verbliebenen schwedischen Kernkraftwerke. REUTERS/Scanpix/Bertil Ericson

Weitere 350 Kilometer liegt die Härnösand, die Hauptstadt der Provinz Ångermanland: Vor bald 40 Jahren wurde hier, an der windigen und kupierten Ostseeküste, der erste Windkraftpark Schwedens eröffnet. «Heute produzieren wir auf dem Gemeindegebiet fünfmal mehr Strom, als wir selbst benötigen», sagt der sozialdemokratische Bürgermeister Andreas Sjölander. Im letzten Jahr wurde in Härnösand der bisher grösste Windkraftpark an Land in Hästkullen eröffnet: 114 bis zu 220 Meter hohe Windräder produzieren seither Strom für den schwedischen Markt.  

Widerstand gegen Windkraft 

Zunehmend sorgt aber auch die Windkraft in Schweden für heisse Köpfe: Im aktuellen Wahlkampf sprechen sich vor allem die rechtspopulistischen Schwedendemokraten und die mit ihnen zusammenarbeitenden bürgerlichen Parteien gegen den weiteren Ausbau der Windkraft aus. Wenn überhaupt, dann sollen ihrer Meinung nach Windkraftparks künftig nur noch draussen im Meer gebaut werden. Im Unterschied zum Nachbarland Dänemark, wo ein grosser Teil der Windkraft – die das Land mit der Hälfte des Strombedarfes versorgt – vor den Küsten im Meer stehen, gibt es in Schweden erst wenige sogenannte Off-Shore-Werke.

Schweden wählt – die Ausgangslage

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Bis zum 11. September sind gut 8 Millionen Schwedinnen und Schweden aufgerufen, die Parlamente auf allen Staatsebenen neu zu wählen: Lokal, regional und national. Im bisherigen Parlament, dem Reichstag mit 349 Sitzen, stellten die regierenden Sozialdemokraten (100 Sitze) mit Unterstützung der Zentrumspartei (31), Linkspartei (27), Grünen (16) und Unabhängigen knapp die Mehrheit. Zur Opposition gehören die Konservativen (70), die Schwedendemokraten (61), Christdemokraten (22) und die Liberalen (20).

Erstmals haben sich im Vorfeld dieser Wahlen die drei bürgerlichen Oppositionsparteien bereit erklärt, mit den Schwedendemokraten kooperieren zu wollen. Diese vor dreissig Jahren aus einem Zusammenschluss neonazistischer und rassistischer Gruppierungen gebildete Partei verfolgt bis heute eine ethnisch begründete Politik. Unter anderem erklärte ein führender Schwedendemokrat kürzlich, dass die indigenen Sami oder auch Juden «keine Schweden» seien.

Echo der Zeit, 7.9.22, 18 Uhr

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