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«Oberflächliche Reformen, keine politischen Rechte»
Aus Echo der Zeit vom 20.04.2018. Bild: Reuters
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Wandel in Saudi-Arabien «Bis jetzt sind die Reformen oberflächlich»

Zum ersten Mal seit mehr als 35 Jahren zeigte in Saudi-Arabien wieder ein Kino öffentlich einen Film. Laut dem Königshaus handelte es sich um einen Testlauf. Geplant ist jedoch der Bau von Hunderten Kinosälen im ganzen Land. Toby Matthiesen sagt, was die Kinovorführung für das Land bedeutet.

Toby Matthiesen

Toby Matthiesen

Experte für die Golfstaaten

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Toby Matthiesen ist Historiker und Politikwissenschaftler und Experte für den Nahen Osten und die Golfstaaten. Aktuell lehrt er an der Universität in Bristol (UK) und schreibt unter anderem an einem neuen Buch über den Aufstieg der Golfstaaten. Zuvor war Matthiesen u. a. an den Universitäten Oxford (UK), Venedig (I) und Stanford (USA) tätig.

SRF News: Wie wichtig war dieser Moment für Saudi-Arabien?

Toby Matthiesen: Es ist sicherlich eine Veränderung. Vor allem jüngere Leute hatten in den letzten 35 Jahren keinen Ort, wo sie hingehen und etwas unternehmen konnten, ausser sich in einem Einkaufszentrum oder zu Hause aufzuhalten.

Weltweit werden immer weniger Filme im Kino geschaut. Wieso soll diese Ankündigung das kulturelle Leben in Saudi-Arabien verbessern?

Die Saudis schauen Fernsehen und Netflix wie wir. Es geht eher um den sozialen Aspekt. Ein Freund von mir war an dieser ersten Aufführung. Er sagte, es habe den Leuten sehr gut gefallen. Wie das Kino im ganzen Land ankommt, wissen wir aber noch nicht.

Bedeuten die Kinos auch eine Öffnung des gesellschaftlichen Lebens?

Die Kinos allein werden das Land nicht von Grund auf verändern. Vor 1979 gab es bereits Kinos in Saudi-Arabien. Und in den meisten anderen arabischen Ländern stehen auch heute Kinos. Die politischen und ökonomischen Probleme werden davon nicht gross berührt.

Künftig sollen 350 Kinos pro Jahr rund eine Milliarde US-Dollar in die Staatskasse spülen. Kann das funktionieren?

Das macht wirtschaftlich wohl nicht gross Sinn. Zuerst muss man all diese Kinos bauen und die Filme aus dem Ausland einkaufen.

Das Land steckt in einer ökonomischen Krise.

Es gibt zwar lokale Filmschaffende, die ihre Werke bisher nicht vor Ort zeigen konnten. Aber bis eine richtige Filmszene aufgebaut ist, wird es sehr lange dauern.

Der Konsum der Saudis soll angeregt werden. Könnte wenigstens das klappen?

Meiner Ansicht nach tangiert die Kino-Vision die fundamentalen wirtschaftlichen und politischen Probleme des Landes nicht. Zuerst müssen die Saudis wieder mehr Geld haben, das sie ausgeben können. Das Land steckt in einer ökonomischen Krise.

Zwei Männerköpfe in traditioneller Kleidung vor dem Schriftzug «Black Panther».
Legende: Als erster Film lief der Hollywood-Streifen «Black Panther». Keystone

Hat Kronprinz Mohammed bin Salman für seine Reformen – Frauen dürfen Auto fahren und ein Sportstadion besuchen – Vorbilder?

Er orientiert sich zu einem gewissen Grad an den Vereinigten Arabischen Emiraten. Dubai und Abu Dhabi sind Modelle für die Region: neoliberale, globalisierte Städte, in den denen alles möglich ist.

Bei den Kinos geht es eher um den sozialen Aspekt.

Aber Saudi-Arabien zu so etwas umzubauen, wäre sehr schwierig. Ausserdem sind das viel kleinere Länder als Saudi-Arabien. Dieses hat ein riesiges Territorium, eine viel grössere Bevölkerung und enorme Ungleichheiten im Land.

Wie kommt die Modernisierung beim ultrareligiösen Establishment in Saudi-Arabien an?

Der Islam hat kein Problem mit dem Kapitalismus. Das grosse Problem in Saudi-Arabien war, dass durch den Ölreichtum ein riesiger Staat entstand, der die ganze Wirtschaft kontrollierte, aber sehr ineffizient war. Auch die Kinos sollen zentral durch den Staat organisiert werden. Dort werden wieder viele Leute angestellt, die gut vernetzt sind. Um die Konsumgesellschaft entsteht eine «Vetterliwirtschaft».

Kann jeder Film gezeigt werden?

Aus dem nun gezeigten Film wurde rund eine Minute herausgestrichen. Das wird sicher auch bei anderen Werken passieren. Bisher war die Moral der Bereich der wahabitischen Kleriker.

Bis eine richtige Filmszene aufgebaut ist, wird es sehr lange dauern.

Im Moment scheint jedoch das Verhältnis zwischen den Klerikern und der Königsfamilie im Wandel zu sein. Diese verstärkt ihre Kontrolle über das ganze Land. Wie die religiösen Schichten darauf reagieren werden, wird sich erst zeigen.

Wird die Modernisierung noch weitergehen?

Bis jetzt haben wir vor allem oberflächliche Reformen gesehen – aber keine politischen Rechte. Es gibt keine Pläne, eine gewählte Versammlung zu gründen. Darüber hinaus sitzen sehr viele politische Gefangene in den Haftanstalten. Viele von ihnen waren Reformer, die das System verändern wollten. Auf diesen Ebenen gibt es überhaupt keine Bewegung. Es ist auch eine Taktik des Staates, die Aufmerksamkeit der Welt auf das Kino und das Autofahren zu lenken.

Sehen Sie kein Potenzial für grundlegende Veränderung?

Wenn sich die Beziehung zwischen den Klerikern und der Königsfamilie fundamental verändert und diese tatsächlich die Kleriker aus dem öffentlichen Leben hinausdrängen kann, bedeutet dies eine sehr starke Veränderung für Saudi-Arabien und die weitere islamische Welt.

Die Kinos allein werden das Land nicht von Grund auf verändern.

Dieser Prozess hat gerade erst begonnen. Die Allianz zwischen diesen zwei Akteuren bestand 250 Jahre lang. Sie wird kaum innert ein, zwei Jahren auseinanderbrechen.

Das Gespräch führte Samuel Wyss.

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