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Wie weiter mit dem Brexit? Diplomatischeres Denken ist gefragt

Brüssel wartet ab, während die Uhr tickt. Falscher Ansatz, findet ein Experte. Er nimmt die EU in die Pflicht.

Die 27 EU-Mitgliedstaaten hätten die Brexit-Verhandlungen effizient und überzeugend geführt, findet der Philosoph Luuk van Middelaar. Sie hätten es fertiggebracht, geschlossen zu agieren. Insofern könne er deren Zufriedenheit verstehen, und insofern hätten sie eigentlich auch keine Fehler gemacht.

Allerdings sehe man jetzt, dass die Brüsseler Maschinerie völlig unfähig sei, das Problem zu lösen, gegen das sie sich zubewege. Dieses Problem ist der sogenannte Backstop – die Frage, wie verhindert werden kann, dass zwischen Nordirland und Irland wieder eine harte Grenze entsteht, was den Friedensprozess auf der Insel gefährden würde.

Mann mit einem Schild
Legende: Auf der irischen Insel demonstrierten im Januar Nordiren und Iren gegen eine harte Grenze. Reuters

Luuk van Middelaar kennt die Brüsseler Institutionen wie nur wenige. Er hat während fünf Jahren im Zentrum der Macht gearbeitet, als Redenschreiber von Hermann van Rompuy, dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates. Die Europäische Union sei eine Meisterin wenn es darum gehe, Konflikte zu entpolitisieren.

Konflikte würden technisch gelöst, nicht politisch. Van Middelaar nennt als ein Beispiel die nationalen Budgets der EU-Staaten, die immer wieder zu Problemen führen. Hier verlagert sich dann jeweils der Diskurs weg vom Inhalt hin zu scheinbar objektiven Budgetvorgaben. Das führt immer wieder zu Dramen.

Grenzfrage lässt sich nicht entpolitisieren

Genau so sei es jetzt bei der Grenzfrage. Doch lasse sich diese nicht entpolitisieren. Wenn es um eine Grenze gehe, eine Linie auf der Karte zwischen zwei Staaten, zwischen zwei Gemeinwesen, die sogar eine koloniale Vergangenheit hätten, dann sei «pure politics» gefordert, reine Politik. Aber Brüssel habe dazu nicht die notwendigen Instrumente.

Der Philosoph fordert ein kreativeres, diplomatischeres und vor allem strategischeres Denken. Paris wäre mit der eigenen Geschichte und dem diplomatischen Gewicht fähig dazu, ist er überzeugt. Von Frankreich hätte mehr Leadership erwartet werden dürfen. Denn das Land hätte als unmittelbarer Nachbar Grossbritanniens und als einzig verbleibende starke Militärmacht unter den EU-Mitgliedstaaten auch ein strategisches Interesse an einem möglichst engen Verhältnis zu Grossbritannien.

Theresa May und Jean-Claude Juncker
Legende: Die britische Premierministerin Theresa May und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Reuters

Aber für van Middelaar haben Frankreich und die EU von Anfang an unterschätzt, welch strategische Bedeutung die künftige Beziehung zu Grossbritannien hat. Dabei hätte das frühzeitige Nachdenken über das künftige Verhältnis auch helfen können die irische Grenzfrage zu lösen, glaubt er.

Stattdessen konzentrierte sich die EU auf die eigentlichen Scheidungsfragen – das Geld und die Bürgerrechte – und die eigene Geschlossenheit. So wichtig die Geschlossenheit gewesen ist, um die eigenen Forderungen gegenüber London durchzusetzen – sie habe gleichzeitig auch den Raum eingeschränkt für eine kreative Lösung des Irlandproblems.

Es geht van Middelaar darum, das Agieren Brüssels zu hinterfragen. Angesichts der bisherigen Verhandlungen und der Positionsbezüge der letzten Wochen kann er sich auch nur schwer vorstellen, dass sich die EU noch bewegen wird. Was also? Er sieht nicht sehr optimistisch in die Zukunft und befürchtet, dass sich in den nächsten Wochen beide Seiten den Schwarzen Peter für das mögliche Scheitern zuschieben werden.

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