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Wiederaufbau in Italien Italien: Wenn der Staat nicht hilft, ist wenigstens die Kirche da

Nach einem Erdbeben in Carmerino wurde viel versprochen, passiert ist nichts. Doch der Erzbischof ist standhaft.

Naturkatastrophen sind das eine in Italien. Die wahre Katastrophe ist aber der Umgang mit Erdbeben, Überschwemmungen und so weiter. Camerino in den Marken beispielsweise wurde am 26. Oktober 2016 Opfer eines heftigen Bebens. Die mittelalterliche Stadt scheint auf den ersten Blick unverändert, aber 80 Prozent der Gebäude sind nicht mehr bewohnbar und müssten eigentlich abgerissen werden.

Doch geschehen ist in den letzten sieben Jahren faktisch nichts. Es herrscht Totenstille in der Altstadt. Erzbischof Francesco Massara vom Bistum Camerino-San Severino Marche nimmt kein Blatt vor den Mund. Die materiellen und wirtschaftlichen Schäden seien das eine, die Traumata der Menschen das andere. Die Verschreibung von Antidepressiva sei um 75 Prozent gestiegen, 23 Suizide habe die kleine Stadt seit dem Beben zu beklagen.

Zuletzt habe sich ein traumatisierter Bewohner im alten, zerstörten Haus das Leben genommen. Wenn das kein Zeichen sei, sagt Massara. Italien sei exzellent bei der unmittelbaren Soforthilfe, aber danach würden die Opfer vergessen. Das Geld versickere. Anfragen würden sechs Monate oder sogar ein Jahr lang nicht beantwortet. Immer sei jemand anderes zuständig, so der Vertreter der Kirche.

Geld spenden kann der Erzbischof nicht. Er verdiene 1462 Euro und sei für zwei Diözesen oder ein Gebiet von 2500 Quadratkilometern zuständig. Aber er ist da. In Italien ersetzt häufig die Familie den Staat – oder aber die Kirche.

Ein kahlköpfiger Priester breitet die Arme aus
Legende: Erzbischof Francesco Massara in der Kirche von Camerino. SRF/Peter Voegeli

Bis vor zwei Jahren war keine Kirche in Camerino benutzbar, also wurden die Gottesdienste auch im Winter in einem Zelt abgehalten. Massaras Büro ist in einer alten Primarschule untergebracht; die Kirche habe Camerino während und nach dem Erdbeben nie verlassen, sagt der Erzbischof.

Auch dem Papst gefällt dieser Bischof. Das Kirchenoberhaupt besuchte Camerino einen ganzen Tag und schenkte dem Erzbischof sein Käppchen, den Pileolus oder Zucchetto, den der Papst im Alltag trägt.

Kirchen werden immer leerer

Francesco Massara ist ein loyaler Kirchenmann. Aber auch er sieht, dass die Kirchen immer leerer, die Besucherinnen und Besucher immer älter werden. Er sieht, dass die Menschen nach dem Erdbeben nicht mehr nach Camerino zurückkommen, die älteren haben keine Perspektiven, die Jüngeren kaum Erinnerung an ihre einstige Heimat. Die Kirche müsse sich erneuern, sagt er, und all die Probleme scheinen ihn nicht zu entmutigen. «Der Staat, das sind wir», sagt Massara, «nicht nur die Institutionen.»

Doch: «Der Staat, das sind wir» ist gerade in Italien kein Gemeingut. Italien ist heterogen, war heterogen, bestand aus dem Kirchenstaat, war von den Österreichern, Spaniern, Franzosen beherrscht und wird eigentlich nur durch das Meer, das es umgibt, zusammengehalten.

Die grosse Stille nach dem Beben

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Vor dem Erdbeben 2016 war Camerino eine pulsierende Universitätsstadt mit 7000 Einwohnerinnen und Einwohnern und fast ebenso vielen Studierenden. Die Universität wurde im Jahr 1336 gegründet und gehört noch heute zu den besten unter den kleineren Universitäten ausserhalb der Grossstädte Italiens. In Camerino wurde der Orden der Kapuziner gegründet.

Heute, sechs Jahre und sechs Regierungen später, ist es still geworden in Camerino. Im historischen Stadtzentrum leben noch etwa 20 Menschen in vier bewohnbaren Häusern. Der Rest ist eine gespenstische Kulisse. Viele Häuser werden durch Stahltrossen zusammengehalten und sehen aus wie ein Paket. Insgesamt hat sich die Bevölkerungszahl halbiert, die Wirtschaftsleistung um ein Drittel verringert.

Rendez-vous, 11.04.2023, 12:30 Uhr

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