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Wirtschaftskrise in Libanon «Die Hälfte der Libanesen ist von Armut betroffen»

Der Staat Libanon ist praktisch bankrott. Verzweifelt versucht die Übergangsregierung, das Land vor dem wirtschaftlichen Kollaps zu retten. Viele Libanesinnen und Libanesen haben kein Einkommen mehr. Trotz Corona-Massnahmen bekunden sie ihren Unmut auf der Strasse. Auch für die rund 1.5 Millionen syrischen Schutzsuchenden im Land hat das Coronavirus die Lage massiv verschärft, wie SRF-Nahostkorrespondentin Susanne Brunner sagt.

Susanne Brunner

Leiterin Auslandredaktion

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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandredaktion von Radio SRF.

Hier finden Sie weitere Artikel von Susanne Brunner und Informationen zu ihrer Person.

SRF News: Wie ist die Situation der syrischen Flüchtlinge in Libanon?

Susanne Brunner: Aktuell ist ihre Lage schwieriger denn je. Denn schon vor der Krise lebten die meisten syrischen Geflüchteten in Libanon laut dem UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in rund 1700 nicht offiziellen Flüchtlingslagern. Viele leben auf irgendwelchen Äckern, am Stadtrand, in Bauruinen oder behelfsmässigen Zeltlagern. Nur ein Teil lebt in Wohnungen.

Kein Land hat pro Kopf der Bevölkerung mehr Flüchtlinge aufgenommen als Libanon.

Drei Viertel von ihnen haben keinen legalen Status. Damit haben sie keinen Zugang zu staatlichen Dienstleistungen und keine Möglichkeit, sich niederzulassen. Und seit 2018 werden sie von einigen Gemeinden und Städten buchstäblich vertrieben. Die Regierung Libanons schafft sie zwangsweise zurück nach Syrien oder setzt sie enorm unter Druck, zurückzukehren.

Wie ist die Stimmung in der libanesischen Bevölkerung?

Sie ist schlechter geworden. Kein Land hat pro Kopf der Bevölkerung mehr Flüchtlinge aufgenommen als Libanon. Zusammen mit den palästinensischen Flüchtlingen sind es rund zwei Millionen, wahrscheinlich eher mehr, bei einer Gesamtbevölkerung von ungefähr sechs Millionen. 2019 und Anfang dieses Jahres hat sich die wirtschaftliche und finanzielle Lage Libanons dramatisch verschlechtert.

Bis vor der Krise haben Hunderttausende monatelang gegen die Regierung demonstriert.

Libanon hat beim IWF Hilfe in der Höhe von zehn Milliarden US-Dollar erbeten. Die Coronakrise macht alles noch schlimmer, weil viele Libanesen und Libanesen nun arbeitslos geworden sind und hungern, besonders in Tripoli. Bis vor der Krise haben deswegen Hunderttausende monatelang gegen die Regierung demonstriert, wegen Korruption und Ineffizienz. Jetzt ist die Hälfte der Libanesen von Armut betroffen.

Wie kommen Flüchtlinge aus Syrien, die sowieso am Rand der Gesellschaft leben, an medizinischer Hilfe?

Libanon hat offiziell etwas über 700 Corona-Infizierte. Die Zahl ist wahrscheinlich höher, denn es wird nicht systematisch getestet. Das Gesundheitssystem ist schon zu normalen Zeiten überlastet. Viele Libanesen klagen, man müsse eine hohe Eintrittsgebühr bezahlen, damit man überhaupt ins Spital gehen könne.

Die Rückkehr nach Syrien ist für die wenigsten eine Option, weil die Lage dort mindestens so schlimm ist.

Flüchtlinge haben erst recht keinen Zugang. Sie sind auf Hilfswerke und Freiwillige angewiesen. Am 22. April wurde eine Palästinenserin aus Syrien im Osten Libanons positiv getestet. Der Fall hat eine Testwelle ausgelöst, denn sollte Corona in den Lagern ausbrechen, würde es sich sehr schnell ausbreiten.

Was heisst das alles für die Zukunft der syrischen Flüchtlinge in Libanon?

Sie haben im Moment kaum eine Perspektive. Denn die Lage im Libanon ist misslich. Die Rückkehr nach Syrien ist für die wenigsten eine Option, weil die Lage dort mindestens so schlimm ist und einige zudem Angst vor Verfolgung haben. Und diejenigen, die zurückgekehrt sind – es sind doch inzwischen einige Tausend – finden ihre Häuser, Dörfer und die Infrastruktur zerstört vor.

Das Gespräch führte Isabelle Maissen.

SRF 4 News, 05.05.2020; 07:40 Uhr ; 

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