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Zum US-Unabhängigkeitstag Ein verwirrtes und gespaltenes Land

Die Amerikaner und Amerikanerinnen lieben ihren Fourth of July. Sie essen Speisen, die sie patriotisch blau, rot und weiss einfärben, sie versammeln sich an Massenpartys und zünden gigantische Feuerwerke. Am 4. Juli fühlen sich alle nicht entzweit, sondern vereint unter dem Sternenbanner.

Doch nicht dieses Jahr. Wenn ich Bekannte oder Interviewpartner frage, wie sie den heurigen Fourth of July begehen, dann drucksen sie herum und sagen, sie seien eigentlich recht müde, und: wenn, dann nur im kleinen Kreis, mit Sicherheitsabstand.

Was ist noch wahr? Was ist bloss ein Gerücht?

Die Verwirrung steigt in diesem Land. Ein Milizionär, den ich kürzlich interviewte, reist heute schwer-bewaffnet nach Gettysburg, um an der Bürgerkriegsgedenkstätte Denkmäler gegen die Antifa zu verteidigen. Vielleicht taucht die Antifa aber auch gar nicht auf; aus linksextremen Kreisen ist zu vernehmen, Rechtsextreme hätten das Gettysburg-Gerücht verbreitet.

Ein wahrhaft «monumentales» Feuerwerk hat Präsident Trump abgehalten, vor der Kulisse von Mount Rushmore in South Dakota, vor den in den Fels gemeisselten Porträts der Präsidenten Washington, Jefferson, Roosevelt und Lincoln. Die tausenden Zuschauenden durften Schutzmasken tragen, wenn sie wollten.

Am Rande der Festivitäten demonstrierten Indianerstämme gegen die Errichtung des Monuments von Mount Rushmore (1927 – 1941). Für sie ist der Berg ein Heiligtum und nun ein Monument für den Genozid an ihnen. Sie erinnern daran, dass die Unabhängigkeit der einen die Unterwerfung und Versklavung der andern bedeutet hat – eine Tatsache, welche die US-Geschichtsschreibung bis heute herunterspielt.

Mitten in der Pandemie dringt tiefliegendes Unrecht an die Oberfläche. Die Bürgerrechtsproteste machen darauf aufmerksam, wie benachteiligt schwarze und braune Minderheiten bis heute in den USA sind. Weisse Bürger und Bürgerinnen marschieren mit bei den Black-Lives-Matter-Protesten, andere holen das Sturmgewehr aus dem Keller und bedrohen Demonstranten.

Was hält dieses Land noch im Innern zusammen?

Die Frage stellen sich viele. In diesem Land, wo ich lebe und arbeite, weiss man nicht mehr, wie man die Nation feiern soll. So tief geht die Krise, oder besser Plural: die Krisen. Es ist eine äussere Krise, herangetragen durch ein Virus – es ist eine innere Krise – Politik und Gesellschaft sind polarisiert, geprägt von Hass und Häme für Andersdenkende.

Und doch, alle, die ich frage, sagen, sie seien Patrioten. Als gemeinsamen Fluchtpunkt nennen sie die Gründerdokumente, die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 und die US-Verfassung. Selbst die wütenden Protestierenden sehen diese als ein Versprechen für eine gerechte Gesellschaft, in der jeder und jede gleichberechtigt nach dem eigenen Glück streben kann.

Bloss – am 4. Juli 2020 – wirkt dieses Versprechen wie eine Fata Morgana in einer Wüsten-Landschaft. Und so können viele in den USA nicht unbeschwert feiern – aber das Streben nach einer «More Perfect Union» – einem vollkommeneren Bund – wie es im US-Verfassungstext steht – bleibt erstaunlich lebendig.

Isabelle Jacobi

USA-Korrespondentin, SRF

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Nach dem Studium in den USA und in Bern arbeitete Jacobi von 1999 bis 2005 bei Radio SRF. Danach war sie in New York als freie Journalistin tätig. 2008 kehrte sie zu SRF zurück, als Produzentin beim Echo der Zeit, und wurde 2012 Redaktionsleiterin. Seit Sommer 2017 ist Jacobi USA-Korrespondentin in Washington.

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