Grossbritannien verzeichnet seit Tagen einen markanten Anstieg der Corona-Neuinfektionen. Allein am Donnerstag wurden fast 4000 positiv getestete Personen gemeldet. Für den Nordosten Englands hat die Regierung die Kontaktbeschränkungen verschärft. Doch das grösste Problem sei, dass das Corona-Testsystem kollabiert sei, sagt SRF-Korrespondent Patrik Wülser.
SRF News: Zwischenzeitlich hatte sich die Zunahme der Ansteckungszahlen in Grossbritannien verlangsamt. Wieso steigen sie jetzt wieder so rasant an?
Patrik Wülser: Das war einigermassen voraussehbar: Die Leute gehen wieder zur Arbeit, die Schulen sind seit zwei Wochen wieder offen, auch die Universitäten sind wieder geöffnet. Das öffentliche Leben nimmt Fahrt auf, es kommt wieder vermehrt zu Ansammlungen von Menschen und Kontakten – deshalb gibt es auch mehr Ansteckungen und Kranke.
Der Anstieg kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Die Labors sind überlastet, es gibt zu wenig Coronatests. Wieso dieser Mangel?
Die Testzentren können wegen der steigenden Infektionszahlen mit der Nachfrage nach Tests schlicht nicht mehr mithalten. Der britische Gesundheitsminister beklagte öffentlich, dass sich auch Personen ohne Symptome testen lassen und so das System unnötig belasten.
Viele Kritiker bemängeln, dass die Erhöhung der Testkapazitäten zu spät kommt.
Premier Boris Johnson hatte seinen Landsleuten «das beste Testsystem der Welt» versprochen, jetzt verspricht er eine Erhöhung der Testkapazitäten auf 500'000 pro Tag bis Ende Oktober. Kommt das nicht zu spät?
Viele Kritiker bemängeln genau das – dass die Erhöhung der Testkapazitäten zu spät kommt. Bislang herrscht in Grossbritannien spätsommerliches Wetter mit angenehmen Temperaturen, doch der Herbst kann jeden Tag kommen und damit tiefere Temperaturen, mit denen auch vermehrt Erkältungen einhergehen. Mit den Erkältungssymptomen wird auch die Nachfrage nach Coronatests rasant ansteigen. Dann wird es für ein funktionierendes Gesundheitssystem enorm wichtig sein, die banalen Erkältungen von den Covid-19-Fällen unterscheiden zu können.
Die britische Regierung scheint bei der Bekämpfung der Pandemie keine sehr gute Figur zu machen – wie sieht das die Bevölkerung?
In den Medien gibt es viele Berichte über persönliche Schicksale und Erlebnisse im Zusammenhang mit der Pandemie. Entsprechend ist die Öffentlichkeit betroffen und verunsichert, andere sind sogar wütend auf die Regierung. Wie repräsentativ solche Berichte sind, lässt sich jedoch nicht sagen.
Premier Johnson wird von Oppositionsführer Keir Starmer regelrecht grilliert.
Im Parlament allerdings ist das Krisenmanagement der Regierung täglich Thema. Premier Johnson wird dort von Oppositionsführer und Labourchef Keir Starmer regelrecht grilliert. Entsprechend steht die Regierung unter grossem Druck – und muss jetzt liefern.
Wie reagiert Johnson auf die Kritik?
Zur Verteidigung der Regierung muss man sagen, dass das Testsystem funktioniert hat und in Grossbritannien so viele Tests gemacht werden, wie in keinem anderen Land Europas. Doch inzwischen ist das System kollabiert.
Ein guter Politiker würde eher weniger versprechen und mehr liefern.
Das Problem: Johnson hat oftmals die Tendenz, Dinge gross und euphorisch zu versprechen und am Ende wenig oder nichts zu liefern. Ein guter Politiker dagegen würde eher weniger versprechen und mehr liefern, denn alles andere verärgert die Leute und verspielt das Vertrauen in der Regierung – notabene das grösste Kapital in einer solchen Jahrhundertkrise.
Das Gespräch führte Barbara Büttner.