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Macht und Wahrheit Lügen in der Politik – am Ende sogar nützlich?

Wieso lügen Menschen – vor allem in der Politik – und weshalb machen sie damit weiter, auch wenn sie überführt sind? Sozialpsychologe Philipp Gerlach hat sich damit beschäftigt.

Menschen lügen bis zu 200 Mal am Tag. Das zeigt die Forschung. Ganz besonders dreist tun das offenbar Menschen in der Politik, zum Beispiel Boris Johnson. Bis er zurückgetreten ist, hat er sich durch Lügen zu retten versucht. Viele Male haben Fachleute gesagt: «Das war es jetzt. Jetzt muss er gehen.» Aber er hielt sich – bis diesen Donnerstag.

Philipp Gerlach

Psychologe

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Philipp Gerlach ist Dozent und Professor für Allgemeine & Sozialpsychologie an der Hochschule Fresenius in Hamburg.

Dabei war Johnson längst entlarvt. Warum lügen Menschen trotzdem? «Das Erreichen der Ziele steht dem Auffliegen beim Lügen im Weg», erklärt Philipp Gerlach, Lügenexperte an der Hochschule Fresenius in Hamburg. «Und deswegen ist es eine Frage der Abwägung, welches Ziel man höher gewichtet und welches jemand für eher erreichbar sieht.»

Boris Johnson oder Donald Trump. Diese Politiker haben echt viel gelogen, ohne dass je grosse Konsequenzen gefolgt sind.

Lügen trotz Risiko, dass man auffliegt: Gerade Politiker, die dermassen im Rampenlicht stehen und von so vielen Leuten kritisch beobachtet werden, lassen sich davon nicht beirren. «Das liegt unter anderem auch daran, dass die Faktenchecks, die immer erst im Nachhinein gemacht werden können, erstaunlich wenig bringen. Die Zuhörer erinnern sich trotzdem an die falsche Information. Die Korrektur wird vergessen.»

Boris Johnsons Taktik: Erst mal alles abstreiten

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Rückblende zum Höhepunkt der Corona-Pandemie: Am Regierungssitz von Boris Johnson in London soll es zu mehreren Partys gekommen sein. Dies ausgerechnet, während der Rest des Landes in einem harten Lockdown sass. Sogar Besuche bei Angehörigen, die im Spital im Sterben lagen, waren verboten. Erst stritt Johnson alles ab. Doch als die Beweislast zu erdrückend wurde, entschuldigte er sich im Parlament. Dabei wurde klar: Er hatte das Parlament und die Öffentlichkeit belogen.

Die Begründung: Er sei davon ausgegangen, es habe sich bei diesen Partys um Arbeitsanlässe gehandelt. Er überstand das darauffolgende Misstrauensvotum. Bis ihn jetzt eine weitere Lüge einholte. Johnson machte einen Parteifreund zum stellvertretenden Fraktionschef, obwohl diesem in mehreren Fällen sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden. Johnson wusste offenbar davon. Zu Beginn reagierte er nach demselben Muster, stritt alles ab. Doch dann war die Beweislast zu gross. Schliesslich stellte sich die Partei gegen ihn und er erklärte den Rücktritt.

Hinzu komme, dass die negativen Folgen für die Politiker oft ausbleiben würden, so der Sozialpsychologe weiter. «Donald Trump ist ein Paradebeispiel dafür. Oder jetzt Boris Johnson. Diese Politiker haben echt viel gelogen, ohne dass je grosse Konsequenzen gefolgt sind.»

Durch Charaktereigenschaften begünstigt

In der Politik wird also gelogen, zum Teil ganz ungeniert. Wobei es meist Politiker sind, nicht Politikerinnen. Ergibt das für den Lügenexperten Sinn? «Frauen können es auch. Aber es ist auffällig, dass alte weisse Männer häufiger in dieses Schema passen. Das hat vermutlich auch mit Persönlichkeitseigenschaften wie zum Beispiel Narzissmus zu tun.»

Johnson
Legende: Lügen haben kurze Beine, heisst es, und im Falle von Boris Johnson, hier bei seinem Rücktritt, nachdem seine Partei ihn fallen liess, auch einen blonden Wuschelkopf. Keystone

Das Verhalten sei komplex. «Es ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Charaktereigenschaften und Situationen. Und es gibt Hinweise darauf, dass in bestimmten politischen oder auch unternehmerischen Strukturen Menschen mit bestimmten Charaktereigenschaften an die Spitze streben.» Narzissmus sei so eine Charaktereigenschaft, so Gerlach.

Vielleicht wollen wir die Lügen manchmal einfach glauben, weil es angenehmer ist.

«Aber es kann natürlich auch sein, dass einem diese Macht auch korrumpiert. Es ist wahrscheinlich sehr komplex und nicht einfach zu beantworten, warum Menschen in bestimmten Positionen lügen.»

Doch warum schlucken Menschen diese Lügen? Dafür gebe es viele Gründe, sagt Gerlach, der an dem Thema forscht. «Vielleicht wollen wir die Lügen manchmal einfach glauben, weil es angenehmer ist.» Johnson sei zudem ein gutes Beispiel dafür, wie man trotz vieler Lügen gut durchkomme und auch Karriere machen könne. «Die Wählerschaft hat es erstaunlich gut hingenommen, dass ihr Kandidat sehr viel gelogen hat.»

Bei Versuchungen wissen wir ja: Man gibt ihnen manchmal nach.

Eine Lüge sei aber auch eine Versuchung. «Es gibt in der Regel diesen kurzfristigen Nutzen, den wir gegenüber der langfristigen Reputation abwägen.» Beim Auffliegen mit der Lüge drohe der Verlust der Reputation als ehrlicher Mensch. Dadurch könne man am Ende vielleicht mehr verlieren, als einem die Erreichung des kurzfristigen Ziels bedeute. «Und bei Versuchungen wissen wir ja: Man gibt ihnen manchmal nach.»

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SRF 4 News, 08.07.2022, 17:15 Uhr ; 

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