Zum Inhalt springen

1 Jahr neues Sexualstrafrecht Die Scham hat die Seite gewechselt – auch in der Schweiz

Ein Jahr ist es her, seit im Schweizer Sexualstrafrecht das Prinzip gilt: «Nein heisst Nein». Zeit also für eine Zwischenbilanz.

Es war ein grosses Ringen, letztes Jahr, als das Parlament das Sexualstrafrecht revidierte. Einigen konnte man sich zwar nicht auf die Zustimmungslösung, aber die linken Frauen – allen voran SP-Nationalrätin Tamara Funiciello – freuten sich trotzdem.

Paula Custer vertritt als Anwältin der Kanzlei Helvetiaplatz Opfer von Sexualstrafdelikten im Kanton Zürich. Zum Verlauf einzelner Fälle kann sie noch nichts sagen, die Verhandlungen dauern noch an. Aber sie sagt, vor allem in den Köpfen der Opfer sei eine Veränderung feststellbar. «Weil sich die Vorzeichen geändert haben. Wir müssen zwar immer noch fragen, warum ist der Übergriff passiert. Aber es geht nicht mehr darum, dass sich das Opfer explizit gewehrt hat.»

Professionelles Umfeld entscheidend

Entscheidend für die Anwältin ist, dass sich das Umfeld in Zürich seit der Revision verändert hat. Polizeibehörden und medizinisches Personal sind sensibilisiert. Das sind neu etwa die Forensic Nurses, speziell geschultes, medizinisches Personal in den Spitälern, das Beweise frühzeitig sichern kann. «Diese Beweissicherung ist für uns enorm wichtig. Später im Prozess, weil sonst Aussage gegen Aussage steht», sagt Anwältin Custer dazu.

Auch in den Zahlen ist eine Revision sichtbar. Letztes Jahr stieg die Zahl der Anzeigen bei den Sexualdelikten im Vergleich zum Vorjahr erneut an, auf über 3400 Fälle.

Nationalrätin Tamara Funiciello erstaunt das nicht. «Seit der Revision reden wir mehr darüber, deshalb zeigen Frauen die Taten häufiger an. Heute nehme man die Opfer ernster, es gebe weniger Schuldzuweisungen in Richtung der Opfer.

Teil der Kantone in Verzug bei Täterkursen

Allerdings macht Funiciello einen grossen Unterschied aus bei den Kantonen. «Kantone wie Zürich oder die Waadt sind weit fortgeschritten in der Umsetzung des Gesetzes. Vor allem, was die Täterarbeit angeht. Und andere Kantone, die sind noch nirgends.»

Das neue Sexualstrafrecht sieht Kurse für Täter vor. Solche Kurse senken Rückfalle erheblich. Das zeigen Erfahrungen im Kanton Zürich mit Kursen bei häuslicher Gewalt. Die unterschiedliche Handhabung der Kantone punkto Täterarbeit ist eine Sache, die finanzielle Hürde der Opfer eine andere.

Prozessieren ist auch eine Geldfrage

«In der Rechtsvertretung haben wir auf Seiten der Tatpersonen eine Verteidigung, auf die die beschuldigte Person Anspruch hat. Auf Seiten der Opfer ist das nicht gegeben. Das muss man sich erkämpfen und das ist ein Ungleichgewicht», sagt Anwältin Custer.

Wir müssen auf Seiten der Opfer immer dafür kämpfen, dass die Rechtsvertretung finanziert werden kann.
Autor: Paula Custer Anwältin

Ob eine geschädigte Person Geld für den Prozess erhält, ist abhängig von ihren finanziellen Verhältnissen. «Wir müssen auf Seiten der Opfer immer dafür kämpfen, dass die Rechtsvertretung finanziert werden kann», so Custer.

Tamara Funiciello betont, dass eine Weiterentwicklung des Gesetzes angedacht ist.

Ihr Ziel ist immer noch die Zustimmungslösung. Aber die «Nein ist Nein»-Lösung sei ein grosser Schritt gewesen, sagt sie. Vorerst gehe es jetzt mal um die Umsetzung in den Kantonen und das Monitoring der Revision, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Tagesschau, 21.6.2025, 19:30 Uhr

Meistgelesene Artikel