Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg – und damit das Ermorden von Millionen Jüdinnen und Juden. Besonders in Ungarn denken in diesen Tagen viele Menschen an Carl Lutz. Der Schweizer Diplomat hat Zehntausende ungarische Juden vor der Deportation in Hitlers Vernichtungslager gerettet.
Es dauerte Jahrzehnte, bis Lutz dafür etwas Anerkennung erhielt. Aber da war er bereits tot. Seine Stieftochter Agnes Hirschi gibt ihm wieder eine Stimme. Unermüdlich reist sie um die Welt und hält das Andenken an Lutz wach.
Er hatte immer das Gefühl, dass ihm Gott eine grosse Mission zugedacht hat.
Heute ist Hirschi 87. Der Rücken ist gebeugt, der Geist hellwach. Immer noch ist sie ständig auf Achse.
Für Lutz nimmt sie ihre ganze Energie zusammen; sie will, dass die Erinnerung an den lange vergessenen Helden lebendig bleibt, gerade auch bei jungen Leuten. Sie sollen wissen, was Menschen wie Lutz zu leisten vermögen, wenn anderen Unrecht geschieht.
«Je mehr Vorträge ich halte, desto mehr vermisse ich ihn», sagt Hirschi. «Ich bedauere, dass ich mich als Teenagerin nicht noch viel mehr für die Ereignisse von damals interessiert habe. Ich hätte noch so viele Fragen an ihn.»
Der Diplomat war auch ein passionierter Fotograf und gläubiger Methodist: «Er hatte immer das Gefühl, dass ihm Gott eine grosse Mission zugedacht hat», sagt Hirschi. In der Schweizer Botschaft in Budapest traf ihn der göttliche Fingerzeig. Er zog eine fiktive Auswanderungsaktion auf.
Die Verwendung der Schutzpapiere interpretierte Lutz zum Vorteil seiner Schützlinge, doch das bemerkte lange niemand. «Er hätte oft zuerst in Bern nachfragen müssen, ob er das überhaupt darf», sagt Hirschi. «Darauf hat er verzichtet, oder es kam gar nicht zustande. Schliesslich war ja Krieg.»
Gerüffelt und totgeschwiegen
Nach vielen Jahren im Ausland ging Lutz zurück in die Schweiz. Er erhielt zahlreiche internationale Ehrungen.
In der Schweiz hingegen habe man ihn gerüffelt und totgeschwiegen, sagt seine Stieftochter. Zeitlebens hoffte Lutz auf die Anerkennung seiner Heimat. Im Parlament wurde sein Werk gewürdigt. Aber er wollte mehr, eine persönliche Ehrung: «Er war frustriert, weil er von der Schweiz so stiefmütterlich behandelt wurde.»
«Gute Miene» gegenüber den Nazis
Jetzt ist auch Hirschi betrübt. Der Schweizer Botschafter in Ungarn ist auch Historiker und informierte sich über Lutz' Rettungsaktion. Jean-François Paroz verfasste Beiträge dazu und würdigt das grosse Verdienst aller Beteiligten. In einem Vortrag sieht er Lutz' Werk jedoch als «konzertierte Aktion mehrerer Regierungen» an.
Viele hätten in kollektiver Anstrengung Grosses geleistet, nicht nur Lutz. Für Hirschi ein Affront: «Als ich das erfahren habe, sind mir die Haare zu Berge gestanden. Mein Stiefvater hat mir das ganz anders erzählt.»
Dass er nicht allein eine solche Aktion stemmen konnte, ist Hirschi klar. Aber er habe sie initiiert und die Zusammenarbeit der Diplomaten zustande gebracht. Aus der Schweiz sei keine Unterstützung gekommen: «Aus Bern hat er immer gehört, dass er nicht zu viel tun sollte. Man müsse gute Miene gegenüber den Nazis zeigen.»
Wenn es diese internationale Schutzoperation gegeben hätte, warum habe der Bundesrat Lutz dann zwanzig Jahre nach seinem Tod rehabilitiert, fragt sich Hirschi.
Und warum sei diese kollektive Aktion nicht viel früher publik gemacht worden? «Schliesslich hätte man stolz darauf sein können, dass man so etwas getan hat. Aber es vergingen siebzig Jahre, bis man darüber sprach.»