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80 Jahre Zweiter Weltkrieg Carl Lutz: der Schweizer Diplomat, der Zehntausende Juden rettete

Agnes Hirschi hält die Erinnerung an ihren Stiefvater wach, dem die Anerkennung in der Heimat lange verwehrt blieb.

Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg – und damit das Ermorden von Millionen Jüdinnen und Juden. Besonders in Ungarn denken in diesen Tagen viele Menschen an Carl Lutz. Der Schweizer Diplomat hat Zehntausende ungarische Juden vor der Deportation in Hitlers Vernichtungslager gerettet.

Carl Lutz mit seiner Frau Gertrud in Budapest.
Legende: Die humanitäre Aktion des Appenzellers gilt als grösste zivile Rettungsaktion für Juden während des Holocausts. Das Bild zeigt Carl Lutz mit seiner Frau Gertrud in Budapest. SRF

Es dauerte Jahrzehnte, bis Lutz dafür etwas Anerkennung erhielt. Aber da war er bereits tot. Seine Stieftochter Agnes Hirschi gibt ihm wieder eine Stimme. Unermüdlich reist sie um die Welt und hält das Andenken an Lutz wach.

Er hatte immer das Gefühl, dass ihm Gott eine grosse Mission zugedacht hat.
Autor: Agnes Hirschi Über ihren Stiefvater Carl Lutz

Heute ist Hirschi 87. Der Rücken ist gebeugt, der Geist hellwach. Immer noch ist sie ständig auf Achse.

Am 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau wurde Hirschi von Bundespräsidentin Sommaruga empfangen.
Legende: Anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau wurde Hirschi von der damaligen Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga empfangen (19. Januar 2020). Keystone / UVEK / Beatrice

Für Lutz nimmt sie ihre ganze Energie zusammen; sie will, dass die Erinnerung an den lange vergessenen Helden lebendig bleibt, gerade auch bei jungen Leuten. Sie sollen wissen, was Menschen wie Lutz zu leisten vermögen, wenn anderen Unrecht geschieht.

«Je mehr Vorträge ich halte, desto mehr vermisse ich ihn», sagt Hirschi. «Ich bedauere, dass ich mich als Teenagerin nicht noch viel mehr für die Ereignisse von damals interessiert habe. Ich hätte noch so viele Fragen an ihn.»

Carl Lutz auf einer Aufnahme von 1959.
Legende: Agnes Hirschi hat Carl Lutz an seinem Sterbebett versprochen, sich um sein Vermächtnis zu kümmern. In seinem Auftrag erzählt sie seine Geschichte, so, wie sie sie vom Stiefvater gehört hat. ATP

Der Diplomat war auch ein passionierter Fotograf und gläubiger Methodist: «Er hatte immer das Gefühl, dass ihm Gott eine grosse Mission zugedacht hat», sagt Hirschi. In der Schweizer Botschaft in Budapest traf ihn der göttliche Fingerzeig. Er zog eine fiktive Auswanderungsaktion auf.

Einweihung eines Denkmals für Carl Lutz in Budapest (Dezember 2006).
Legende: Spezielle Schutzbriefe stellten etwa 50'000 jüdische Menschen in dutzenden Häusern von Budapest unter den Schutz der Schweiz. Bild: Einweihung eines Denkmals für Carl Lutz in Budapest (Dezember 2006). Keystone / AP / Bela Szandelsky

Die Verwendung der Schutzpapiere interpretierte Lutz zum Vorteil seiner Schützlinge, doch das bemerkte lange niemand. «Er hätte oft zuerst in Bern nachfragen müssen, ob er das überhaupt darf», sagt Hirschi. «Darauf hat er verzichtet, oder es kam gar nicht zustande. Schliesslich war ja Krieg.»

Gerüffelt und totgeschwiegen

Nach vielen Jahren im Ausland ging Lutz zurück in die Schweiz. Er erhielt zahlreiche internationale Ehrungen.

Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem
Legende: Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem zeichnete Carl Lutz und seine geschiedene Frau Gertrud mit dem Ehrentitel «Gerechte unter den Völkern» aus. Getty Images / David Silverman

In der Schweiz hingegen habe man ihn gerüffelt und totgeschwiegen, sagt seine Stieftochter. Zeitlebens hoffte Lutz auf die Anerkennung seiner Heimat. Im Parlament wurde sein Werk gewürdigt. Aber er wollte mehr, eine persönliche Ehrung: «Er war frustriert, weil er von der Schweiz so stiefmütterlich behandelt wurde.»

«Gute Miene» gegenüber den Nazis

Jetzt ist auch Hirschi betrübt. Der Schweizer Botschafter in Ungarn ist auch Historiker und informierte sich über Lutz' Rettungsaktion. Jean-François Paroz verfasste Beiträge dazu und würdigt das grosse Verdienst aller Beteiligten. In einem Vortrag sieht er Lutz' Werk jedoch als «konzertierte Aktion mehrerer Regierungen» an.

Viele hätten in kollektiver Anstrengung Grosses geleistet, nicht nur Lutz. Für Hirschi ein Affront: «Als ich das erfahren habe, sind mir die Haare zu Berge gestanden. Mein Stiefvater hat mir das ganz anders erzählt.»

Dass er nicht allein eine solche Aktion stemmen konnte, ist Hirschi klar. Aber er habe sie initiiert und die Zusammenarbeit der Diplomaten zustande gebracht. Aus der Schweiz sei keine Unterstützung gekommen: «Aus Bern hat er immer gehört, dass er nicht zu viel tun sollte. Man müsse gute Miene gegenüber den Nazis zeigen.»

Keine Stellungnahme vom Aussendepartement

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Weder Botschafter Jean-François Paroz noch das zuständige Aussendepartement EDA wollten zu den Publikationen des Botschafters konkret Stellung nehmen. Eine Interviewanfrage an Botschafter Paroz wurde abgelehnt. Das EDA schreibt, dass der Autor seine persönliche Meinung wiedergebe. Es handle sich nicht um die offizielle Position des EDA, ist auf einer Publikation zu lesen.

Einige der Schriften sind aber auf der Webseite des EDA aufgeschaltet. Das wirkt ein wenig so, als ob das Aussendepartement die Ansichten des Botschafters nicht wirklich unterstützt. Zumal die schweizerische Flüchtlingspolitik gegenüber jüdischen Menschen in den Kriegsjahren sehr restriktiv gehandhabt wurde.

Wenn es diese internationale Schutzoperation gegeben hätte, warum habe der Bundesrat Lutz dann zwanzig Jahre nach seinem Tod rehabilitiert, fragt sich Hirschi.

Und warum sei diese kollektive Aktion nicht viel früher publik gemacht worden? «Schliesslich hätte man stolz darauf sein können, dass man so etwas getan hat. Aber es vergingen siebzig Jahre, bis man darüber sprach.»

Rendez-vous, 7.5.2025, 12:30 Uhr; sten

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