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Abtreibung rückgängig machen? Experiment an Schwangeren

Eine Abtreibung mit Medikamenten lasse sich wieder rückgängig machen, behauptet eine Schweizer Stiftung. Sie lässt Schwangeren hochdosiert Hormone zukommen. SRF Investigativ zeigt, dass die Methode nicht zugelassen und experimentell ist.

«Sofort anrufen!» Mit Ausrufezeichen richtet sich die Website «Rettet mein Baby!» an Frauen in Gewissensnot. An Schwangere, die bereits eine Abtreibung eingeleitet haben. Es gebe ein Zeitfenster, um sie «rückgängig» zu machen.

«Rettet mein Baby!»

Hochdosierte Hormone sollen die Abtreibung «neutralisieren». Die Methode nennt sich «Abortion Pill Reversal» und wurde Mitte September am «Marsch fürs Läbe» auf der Bühne von Abtreibungsgegnern in Zürich propagiert.

So funktioniert eine medikamentöse Abtreibung

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Eine frühe Schwangerschaft kann mit zwei Medikamenten abgebrochen werden. Zuerst wird der Wirkstoff Mifepriston (Handelsname Mifegyne) verabreicht. Dieser Progesteron-Blocker löst meist den Abbruch der Schwangerschaft aus. Zur besseren Wirksamkeit nimmt die Frau 36 bis 48 Stunden später ein zweites Medikament mit dem Wirkstoff Misoprostol (Handelsname Cytotec). Lässt sie das zweite Medikament weg, besteht eine Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent, dass die Schwangerschaft erhalten bleibt.

Um mehr über «Abortion Pill Reversal» herauszufinden, ruft eine Reporterin von SRF Investigativ verdeckt die Hotline der Homepage an. Sie sagt, sie habe die Abtreibungspille Mifegyne bereits geschluckt. Nun habe sie Zweifel. Laut der Website «Rettet mein Baby!» bereuen zehn Prozent der Frauen ihren Entscheid. Mit einem «völlig unschädlichen Gegenmittel» könnten in der Schweiz jährlich 600 Babys «gerettet» werden.

Die Hotline vermittelt sofort eine Ärztin. Diese verschreibt der Reporterin hohe Dosen zweier Progesterone und zwar am Telefon, ohne persönliche Untersuchung. Während acht Wochen soll die vermeintlich Schwangere einen Hormoncocktail zu sich nehmen.

Das sind abartig hohe Hormondosen.
Autor: Helene Huldi Gynäkologin und Geburtshelferin

«Abortion Pill Reversal» (APR) basiert auf einem umstrittenen Konzept des US-Arztes und Abtreibungsgegners George Delgado. Gynäkologische Fachgesellschaften in Kanada und den USA bezeichnen die Methode als unbewiesen und unethisch.

Klare Kritik übt auch Gynäkologin Helene Huldi im Namen der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG). «Das sind abartig hohe Hormondosen», sagt Huldi, als die Reporterin ihr den Medikamentenberg zeigt. «Das schockiert mich, das ist kein verantwortungsvolles ärztliches Handeln.» Progesterone könnten zwar schwangerschaftserhaltend wirken, Dosis und Anwendung seien aber «experimentell» und «nicht wissenschaftlich».

Von Unwissenschaftlichkeit zu sprechen, sei grundfalsch, entgegnet Abtreibungsgegner Dominik Müggler, APR sei keine experimentelle Therapie. Er ist Stiftungsratspräsident der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) und bietet die APR-Methode über die Website «Rettet mein Baby!» an. Müggler ist Mitinitiant der beiden Volksinitiativen «Einmal darüber schlafen» und «Lebensfähige Babys retten», die in der Phase der Unterschriftensammlung sind.

Abortion Pill Reversal: Die APR-Methode

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Hat eine Frau die Abtreibungspille Mifegyne geschluckt, öffnet sich laut Ansicht der APR-Vertreter ein Zeitfenster von 36 bis 48 Stunden. Innerhalb dieser Frist lasse sich eine Abtreibung «rückgängig» machen. Mit hohen Progesteron-Dosen der Medikamente Duphaston und Utrogestan soll die Schwangerschaft erhalten bleiben.

US-Arzt George Delgado, der Erfinder der Methode, behauptet aufgrund eigener Daten, die durchschnittliche Erfolgsrate liege bei 60 bis 70 Prozent. Es gebe weniger Frühgeburten und keinen Anstieg von Geburtsdefekten. Gynäkologische Fachgesellschaften kritisieren dagegen, die Methode sei wissenschaftlich unbelegt. Die verabreichten Medikamente sind für eine solche Behandlung nicht zugelassen.

«Die Babys kommen alle gesund zur Welt, sofern sie nicht eine Vorerkrankung hatten», schreibt Müggler in seiner Stellungnahme. Es seien keine Risiken weder für die Frau noch für das Kind bekannt. Eine persönliche Untersuchung durch den APR-Arzt sei nicht nötig, die Schwangere sei ja vorher durch den Arzt untersucht worden, der das Abtreibungsmedikament verschrieben habe, so Müggler.

Dem widerspricht Gynäkologin Huldi vehement: «Eine Patientin muss untersucht und sorgfältig über Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt werden.» Es handle sich hier «um extrem hohe Hormondosen in einer sehr frühen Schwangerschaft, wo es Fehlbildungen geben kann». Beim Selbstversuch der Journalistin sagte die Ärztin, sie müsse bald zu ihrer Gynäkologin – doch die Medikamente verschrieb sie ohne eine Untersuchung.

Diese Behandlung ist nicht zugelassen und wird von den Krankenkassen nicht bezahlt.
Autor: Matthias Müller Krankenkassenverband Santésuisse

Die Ärztin, die im Auftrag von «Rettet mein Baby!» am Telefon haufenweise Hormone verschrieb, bezeichnete die Abtreibungsumkehr bei zwei Testanrufen von SRF Investigativ als «sicher». In beiden Fällen klärte sie nicht deutlich darüber auf, dass der Hormoncocktail nicht zugelassen ist. Zudem behauptete sie in einem Fall, die Medikamentenkosten übernehme die Krankenkasse. Dies ist gemäss Krankenkassenverband Santésuisse nicht der Fall.

Frauen müssen schriftlich für die Behandlung einwilligen.
Autor: SGGG Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe

Laut der gynäkologischen Fachgesellschaft müssten Schwangere ihr schriftliches Einverständnis für die «Off Label»-Behandlung geben. Die Ärztin am Telefon verlangte das nicht. Gegenüber SRF Investigativ wollte sie keine Stellung nehmen. Klar ist: Sie verschreibt die Methode nicht als einzige. Laut der «Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind» gibt es ein «Netzwerk von fast einem Dutzend Ärzten», die Schwangeren experimentell Hormone verschreiben.

10vor10, 19.10.2022, 21:50 Uhr

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