Andererseits hat sich das Wohnverhalten in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Während insbesondere der Anteil von Einzelhaushalten verhältnismässig stark zugenommen hat – er hat sich seit 1960 mehr als vervierfacht – und auch zunehmend mehr Haushalte aus zwei Personen bestehen, leben in immer weniger Wohnungen und Häusern drei oder mehr Menschen.
Kurz: Die Bevölkerung wächst, und die Menschen in der Schweiz beanspruchen im Schnitt immer mehr Wohnraum für sich. Also müsste eigentlich auch mehr Wohnraum entstehen, weil sich ansonsten das Angebot allmählich verknappen wird.
Leerwohnungsziffer sinkend
So weit, so plausibel. Doch genau dieses Szenario könnte bevorstehen. Dies zeigt die sogenannte Leerwohnungsziffer. Sie wird einmal im Jahr berechnet und legt dar, wie viel Wohnraum hierzulande leersteht (siehe Box).
Leerwohnungsziffer: Indikator für Wohnungsknappheit
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Unter der Leerwohnungsziffer versteht man den prozentualen Anteil der leer stehenden Wohnungen am Gesamtwohnungsbestand der registerbasierten Gebäude- und Wohnungsstatistik (GWS) des Vorjahres. Im Auftrag des Bundesamts für Statistik (BfS) wird sie jährlich erhoben. Der Stichtag ist jeweils der 1. Juni.
Bei den Berechnungen werden alle bewohnbaren Wohnungen berücksichtigt – unabhängig, ob möbliert oder nicht. Mitgerechnet werden auch leer stehende Ferien- oder Zweitwohnungen, sofern sie das ganze Jahr bewohnbar und zur Dauermiete (mindestens drei Monate) oder zum Verkauf ausgeschrieben sind.
Für sich alleine stehend lässt sich die Leerwohnungsziffer nicht adäquat einordnen. Grundsätzlich lässt sicher aber sagen, dass ab einer Leerwohnungsziffer von unter einem Prozent ein Wohnungsnotstand herrscht.
Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt eine sinkende Tendenz. So beträgt die Leerwohnungsziffer derzeit 1.31 Prozent; vor zwei Jahren lag sie bei 1.72 Prozent. Oder in absoluten Zahlen ausgedrückt: Standen 2020 noch 78'832 Wohnungen in der Schweiz leer, waren es 2022 noch 61'496.
An und für sich sei das kein Grund zur Sorge. Dies sagt Ursina Kubli. Die Leiterin Immobilien Research bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB) erklärt: «Man kann nicht pauschal sagen, wie hoch oder tief die Leerwohnungsziffer sein muss.» Offensichtlich ist auch, dass sie in der Vergangenheit schon deutlich tiefer war.
Es gelte aber, die Zahl im Kontext zu betrachten. Denn entscheidend ist vor allem, wo die Wohnungen leer stehen. Und ob das Angebot von einer lokalen Anfrage bedient werden kann. Oder mit einem Beispiel gesprochen: Einer Pflegefachkraft in der Stadt Zürich bringt es nichts, wenn die Leerwohnungsziffer in Martigny im Kanton Wallis bei acht Prozent liegt.
Einsprachen hemmen Wohnungsbau
Doch genau dies ist gemäss Kubli derzeit ein Problem. Es sei tatsächlich so, dass es insbesondere in den Städten wenig freien Wohnraum gebe. Die Konsequenz: Der Wohnungsmarkt im urbanen Raum wird umkämpfter, die Wohnkosten immer höher. Denn das oben genannte Beispiel mit der Pflegefachkraft ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Kubli sagt: «Zürcher Arbeitskräften nützen leere Wohnungen im Kanton Jura nichts.»
Zudem stocken Bauvorhaben, welche der Wohnungsnot Abhilfe schaffen würden. Immer wieder kommt es zu Einsprachen, welche die Prozesse verzögern (siehe Box unten).
Das spürt auch Nathanea Elte. Sie ist Präsidentin der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ). Elte sagt: «Die Folgen solcher Verzögerungen ist viel mehr Aufwand.» Es brauche neue Pläne und Grundlagen, Juristinnen und Architekten müssten erneut konsultiert oder die Stadt frisch involviert werden. «Der Aufwand ist immens», betont sie.
Gesetzesänderung könnte Situation in Städten verbessern
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Dass der urbane Wohnraum knapp ist, hat auch mit rechtlichen Rahmenbedingungen zu tun. Im Kern geht es um die sogenannte Lüftungsfensterpraxis. Diese geht auf einen Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahr 2016 zurück. Damals hatte das Bundesgericht den Lärmschutz deutlich strenger ausgelegt.
Grundsätzlich legte das oberste Schweizer Gericht fest, dass es nicht mehr ausreichend sei, wenn die Lärmgrenzwerte nur noch bei Lüftungsfenstern eingehalten werde. Zürich und einige andere Kantone massen bis zu diesem Zeitpunkt nämlich die Lärmgrenzwerte nicht an allen Fenstern eines Neubaus, sondern nur bei Lüftungsfenster, die beispielsweise gegen einen Hof lagen. In der Folge war es praktisch unmöglich, an lauten Lagen zu bauen. Dies hat auch der Bundesrat erkannt, weshalb er im vergangenen Dezember
eine Botschaft zum «Bauen im Lärm» publiziert hatte.
Er sieht eine Änderung im Umweltschutzgesetz vor.
Erfreut über diese Marschrichtung ist Beat Flach. Der Aargauer GLP-Nationalrat
hatte bereits 2016 Ähnliches in einer Motion gefordert.
Er sagt: «Es hat sich gezeigt, dass es hunderte Wohnungen gibt, die im Bereich der Innenverdichtung wegen des Lärmschutzes nicht realisiert werden können.» Der Vorschlag des Bundesrats geht gemäss Flach «in die richtige Richtung». Man schaffe die Möglichkeit, Wohnraum dort zu schaffen, wo er nötig sei, ohne dabei den Lärmschutz zu missachten.
Etwas anders sieht es Ursula Schneider Schüttel. Die SP-Nationalrätin aus dem Kanton Freiburg sagt: «Ich bin diesbezüglich kritisch eingestellt.» Die erste Aufgabe sei, die Menschen vor Lärm zu schützen. «Das sind wir der Gesundheit der Leute schuldig», betont sie. Dass der Lärmschutz nun gelockert werden soll, damit schneller gebaut werden könne, sei «nicht die Lösung». Letztlich dürfe auch bezahlbarer Wohnraum, wofür die SP einstehe, nicht auf Kosten der Umwelt erreicht werden.
Die Folgen spüren gemäss Elte die Bewohnerinnen und Bewohner. Denn wegen des Mehraufwands steigen auch die Mieten. Vor allem aber können dadurch die zusätzlichen Wohnungen nicht angeboten werden, die es eigentlich braucht, um der Wohnungsknappheit im urbanen Raum entgegenzuwirken.
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