Zum Inhalt springen

Beziehung zur EU Bundesrat will kein «Rahmenabkommen 2.0»

Die Schweizer Regierung will den bilateralen Weg weiterführen. Ein neues Rahmenabkommen stehe nicht zur Debatte.

Nach monatelangen internen Diskussionen hat die Landesregierung am Freitag skizziert, wie sie in den Beziehungen mit der EU weitermachen will. Am Mittwochvormittag hatte sie eine Klausur zum Thema Europapolitik durchgeführt. Ziel ist es, ein neues Verhandlungspaket mit der EU zu verabschieden.

Ein Rahmenabkommen 2.0 ist kein Thema.
Autor: Ignazio Cassis Bundespräsident

Die ersten nun kommunizierten Eckwerte dieses Plans sind kein Paradigmenwechsel, sondern lehnen sich an Ideen an, die in den vergangenen Monaten immer wieder zu hören waren.

Sektorielle Regelung bevorzugt

Beispielsweise will der Bundesrat – anders als beim gescheiterten Rahmenabkommen – Fragen wie die dynamische Rechtsübernahme, die Streitbeilegung sowie Ausnahmen und Schutzklauseln sektoriell regeln.

Das heisst, dass diese institutionellen Fragen in den einzelnen Binnenmarktabkommen verankert werden sollen. «Ein Rahmenabkommen 2.0 ist kein Thema», so Bundespräsident Ignazio Cassis an der Medienkonferenz. Der Bundesrat sei überzeugt, dass es im Interesse der EU und der Schweiz sei, den bilateralen Weg weiterzuführen.

Was ist seit dem Scheitern des Rahmenabkommens geschehen?

Box aufklappen Box zuklappen

Acht Monate sind seit dem Abbruch der Verhandlungen um ein Rahmenabkommen Schweiz-EU vergangen. Der Bundesrat tat sich bislang schwer, Alternativen aufzuzeigen. Derweil nimmt der Druck seitens Brüssel zu.

26. Mai 2021: Gleichzeitig mit dem Verhandlungsabbruch gibt der Bundesrat bekannt, dass es im gemeinsamen Interesse der Schweiz und der EU sei, «die bewährte bilaterale Zusammenarbeit zu sichern und die bestehenden Abkommen konsequent weiterzuführen». Das Justizdepartement wird beauftragt, zu prüfen, wie das bilaterale Verhältnis «mit möglichen autonomen Anpassungen im nationalen Recht stabilisiert werden könnte».

Juni 2021: Die EU-Forschungskommissarin Mariya Gabriel gibt den Startschuss für das EU-Forschungsprogramm Horizon Europe. Dabei wird auch bekannt, welche Staaten von einem Übergangsabkommen profitieren, da die Verhandlungen zur Assoziierung noch nicht fertig sind. Die Schweiz gehört nicht dazu.

4. Juni 2021: Der Bundesrat unterbreitet dem Parlament eine Botschaft zur Deblockierung der Kohäsionsmilliarde. Die Botschaft soll in der Herbstsession vom Parlament behandelt werden. Grundsätzlich hatten die Räte das Geld bereits gesprochen, die Auszahlung jedoch an Bedingungen geknüpft. Diese Bedingungen sollen nun gestrichen werden.

20. Juni 2021: Aussenminister Ignazio Cassis schliesst nicht aus, dass die Schweiz nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen dereinst wieder mit der EU über institutionelle Fragen sprechen könnte. Sollte es dazu kommen, müsse die Schweiz von Anfang an deutlich machen, was gehe und was nicht, sagt Cassis einem Interview mit der «SonntagsZeitung».

20. Juli 2021: Aussenminister Ignazio Cassis, EU-Kommissar Johannes Hahn und der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell treffen sich in Brüssel zu informellen Gesprächen. Trotz der angespannten Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU äussern sich die Teilnehmer im Anschluss betont freundlich.

17. September 2021: Laut dem Bundesrat sind Verhandlungen mit der EU über die Teilnahme der Schweiz am Forschungsprogramm Horizon «zurzeit nicht möglich». Deshalb brauche es Übergangslösungen für Schweizer Forschende. In die Bresche springen soll beispielsweise der Nationalfonds.

17. September 2021: Zum ersten Mal seit dem Scheitern des Rahmenabkommens reist Staatssekretärin Livia Leu zu einem Arbeitsbesuch nach Brüssel. Die EU zeige sich interessiert an einem Dialog, bilanziert die Staatssekretärin. «Es ist nicht eine Zeit der geschlossenen Türen.»

21. September 2021: Der Slowake Maros Sefcovic, EU-Vizekommissionspräsident, ist neu für das Schweiz-Dossier zuständig – und sorgt sogleich mit offensiven Aussagen für Aufsehen. Die Schweiz solle nicht nur den geplanten Kohäsionsbeitrag an die EU überweisen, sondern auch weitere Gelder zahlen. Es sei wichtig, dass die Schweiz ihre Schulden bezahle als Gegenleistung für ihre Teilnahme am Binnenmarkt.

30. September 2021: National- und Ständerat entscheiden, den seit zwei Jahren ausstehenden Kohäsionsbeitrag in Höhe von 1,3 Milliarden Franken an die EU auszuzahlen. Der Bundesrat kann nun entsprechend handeln und auf ein positives Zeichen der EU hoffen.

20. Oktober 2021: Weil Schweizer Forschende von einem Teil des Programms Horizon Europe ausgeschlossen sind und kein Geld von der Europäischen Kommission erhalten, springt der Bund in die Bresche. Für 2021 werden gut 400 Millionen Franken zur Verfügung gestellt.

15. November 2021: Bundesrat Ignazio Cassis und Maros Sefcovic, Vizepräsident der EU-Kommission, bekräftigen nach einem Treffen in Brüssel ihren Willen zur Zusammenarbeit. Cassis spricht von einer Agenda, die man nun bis zum World Economic Forum (WEF) in Davos Mitte Januar 2022 gemeinsam entwickeln wolle. Sefcovic macht deutlich, dass die Zeit drängt und die EU nicht bereit sei, bis 2024 zu warten.

17. November 2021: Am Tag nach dem Treffen mit Bundesrat Ignazio Cassis fordert Maros Sefcovic ein klares politisches Signal, dass die Schweiz es ernst meint. Nach dem abrupten Abbruch der Gespräche über ein Rahmenabkommen gebe es ein Vertrauensproblem, sagt er in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen.

19. November 2021: Bei den neu lancierten Gesprächen der Schweiz mit der EU geht es laut Aussenminister Ignazio Cassis darum, zunächst eine gemeinsame Agenda zu definieren. Die Schweiz lasse sich durch die EU nicht unter Druck setzen, sagt Cassis in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen.

24. November 2021: Die Schweiz solle innenpolitisch klären, welche Beziehungen sie zu welchem Preis mit der EU wolle. Dies sagt Aussenminister Ignazio Cassis am Europa Forum Luzern. Die Schweiz solle der EU keine unüberlegten Antworten geben und sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen.

1. Dezember 2021: Die EU ist weiterhin nicht bereit, das Abkommen über technische Handelshemmnisse (MRA) zu aktualisieren und damit der Schweizer Branche für Medizintechnik (Medtech) wieder einen privilegierten Marktzugang zu gewähren. Gespräche im Gemischten Ausschuss zum MRA zwischen der Schweiz und der EU bringen keine Lösung.

3. Dezember 2021: Frankreich will während seiner halbjährigen Präsidentschaft des EU-Rates die Schweiz nicht thematisieren. Die Schweiz müsse sich bewusst sein, «dass wir ein Problem haben», sagt Frédéric Journès, französischer Botschafter in der Schweiz, in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung». Nur weil die Schweiz die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen abgebrochen habe, seien die Fragen, die damit behandelt werden sollten, nicht verschwunden.

11. Dezember 2021: Der abtretende Chef des Staatssekretariats für Migration (SEM), Mario Gattiker, übernimmt Aufgaben im Europa-Dossier. Vom Bundesrat wird er beauftragt, die Analyse der Unterschiede zwischen den Regelungen der Schweiz und der EU fortzuführen.

2. Januar 2022: Bundespräsident Ignazio Cassis signalisiert der EU ein Entgegenkommen. «Wir werden aber nicht alle Forderungen erfüllen», sagt er dem «SonntagsBlick».

12. Januar 2022: Der Bundesrat führt erneut eine Aussprache über das weitere Vorgehen in der Beziehung zwischen der Schweiz und der EU. Er habe den Auftrag «für die Vorbereitung dieser sogenannten Agenda der Schweiz» erteilt, sagt Bundespräsident Ignazio Cassis.

23. Januar 2022: Vertreter aus Wirtschaft und Forschung fordern eine sofortige Schadensbegrenzung für die Hochschulen. Der Bundesrat müsse alles tun, um bis Ende Jahr einen vollen Anschluss ans EU-Forschungsprogramm Horizon zu erreichen, heisst es in einer Mitteilung.

31. Januar 2022: Staatssekretärin Martina Hirayama richtet einen Appell an die EU. Brüssel solle die institutionellen Fragen und die Forschungszusammenarbeit nicht miteinander verknüpfen, sagt sie in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen.

2. Februar 2022: Die EU-Kommission verabschiedet den Entwurf des Grundsatzabkommens zur Schweizer Kohäsionsmilliarde. Bevor es definitiv unterzeichnet werden kann, müssen noch die EU-Staaten über dieses «Memorandum of Understanding» (MoU) befinden.

6. Februar 2022: Die Schweiz muss nach Ansicht von Bundespräsident Ignazio Cassis bei der Planung der künftigen Beziehung mit der EU aus der rein «technisch-institutionellen Fragestellung» herauskommen. Stattdessen müsse der Inhalt im Fokus stehen, sagt er im Interview mit der «SonntagsZeitung». Es brauche jetzt «ein bisschen Ruhe und etwas Kreativität».

Vonseiten der EU war bislang immer zu hören, dass ein solcher vertikaler – oder eben sektorieller – Ansatz keine Option ist. Trotzdem möchte der Bundesrat mit Brüssel sondieren, ob künftig darüber verhandelt werden könnte.

Kohäsionsmilliarde als Pfand

Ein Vertrag, der institutionelle Fragen für alle bilateralen Abkommen integral klärt, ist für den Bundesrat «keine Option», wie er schreibt. Er möchte vielmehr die schon länger blockierten Abkommen, beispielsweise in den Bereichen Strom und Lebensmittelsicherheit, vorantreiben.

Zudem strebt er die volle Assoziierung der Schweiz in der Forschung, Gesundheit und Bildung an. In den vergangenen Monaten war der innenpolitische Druck auf den Bundesrat gestiegen, insbesondere den uneingeschränkten Zugang zum EU-Forschungsprogramm Horizon Europe sicherzustellen. Bislang stellte sich die EU quer, weil sie zuerst die institutionellen Fragen geklärt haben möchte.

Für den Bundesrat geht es nach eigenen Angaben darum, den bilateralen Weg mit der EU fortzusetzen, um weiterhin gute und geregelte Beziehungen zum Vorteil beider Seiten zu unterhalten. Er stellt der EU in Aussicht, im Rahmen des Verhandlungspakets eine Verstetigung des Schweizer Kohäsions- und Migrationsbeitrags zu prüfen. Dies fordert Brüssel seit längerem.

Innenpolitisch Mehrheiten schaffen

Mit diesen Eckwerten will die Schweizer Regierung als nächstes Sondierungsgesprächen mit der EU aufnehmen. Parallel dazu werden die laufenden Arbeiten zu den bestehenden Regelungsunterschieden fortgeführt, wie der Bundesrat mitteilte.

Alt Staatssekretär Mario Gattiker soll dann in einem zweiten Schritt eine Analyse und Bewertung der ermittelten Spielräume vornehmen. Bereits in den nächsten Wochen sollen verschiedene Fragen «mit wichtigen innenpolitischen Akteuren» vertieft werden, wie der Bundesrat schreibt. «Das Ergebnis dient dem Bundesrat als eine der Grundlagen, um Verhandlungsmasse zu schaffen.»

Mehr Transparenz gefordert

Box aufklappen Box zuklappen

Der Bundesrat wird in seinen Sitzungen künftig regelmässig Standortbestimmungen zum EU-Dossier vornehmen, wie er schreibt. Verschiedene Parlamentskommissionen hatten jüngst gefordert, transparenter über die Entwicklungen in der Europapolitik informiert zu werden.

Seit dem Abbruch der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen Ende Mai 2021 wartet die EU auf einen Vorschlag der Schweiz. Denn Bern hatte den Verhandlungstisch verlassen. Die Beziehungen zwischen den beiden Seiten lassen sich seither als kühl beschreiben. Die EU übte in den vergangenen Monaten verschiedentlich mit politischen Verknüpfungen Druck auf die Schweiz aus.

Das Rahmenabkommen war insbesondere an innenpolitischen Widerständen gescheitert. Zu uneinig waren sich die Parteien in vielen strittigen Punkten. Daraus will der Bundesrat lernen – er hört sich unter anderem die Ideen und Vorschläge aus der Zivilgesellschaft an.

Justizministerin Karin Keller-Sutter betonte, man wolle die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und einfach versuchen, die Leute an Bord zu holen. Die Gespräche mit den Kantonen und Sozialpartnern sollen ohne den Druck einer Verhandlung stattfinden.

SRF 4 News, 25.2.2022, 12:00 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel