Ein Mann geht durch die Reihen des Nationalratssaals und raunt allen zu: «Stich wählen!» Dabei ist Otto Stich gar nicht offizieller Kandidat. Er ist nicht mal im Saal. Doch die Mehrheit der Bundesversammlung wählt ihn trotzdem – statt der offiziellen Kandidatin Lilian Uchtenhagen.
Es ist 1983 nicht das erste Mal, dass ein Bundesrat gewählt wird, der nicht von seiner Partei vorgeschlagen wurde. Doch es ist eine Premiere, dass jemand über Nacht als Kandidat aufgebaut wurde. Es ist die Geburtsstunde von vielen Mythen und Geschichten rund um die Nacht vor der Bundesratswahl, die auch vor der kommenden Wahl am Mittwoch hervorgeholt werden.
Wilde Bundesräte seit 1973
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Immer wieder wurden sogenannt wilde Bundesräte gewählt. Also Politikerinnen und Politiker, die nicht offiziell von ihrer Partei vorgeschlagen wurden.
Die folgende Liste zeigt die Kandidatinnen und Kandidaten, die seit 1973 gegen den Willen ihrer Parteien gewählt wurden. Zu beachten ist dabei, dass es lange Usus war, dass die Parteien nur jemanden – und nicht wie heute üblich zwei oder drei Personen – vorschlugen.
1973: Willi Ritschard (statt Arthur Schmid), SP
1973: Hans Hürlimann (statt Enrico Franzoni), CVP
1973: Georges-André Chevallaz (statt Henri Schmitt), FDP
1983: Otto Stich (statt Lilian Uchtenhagen), SP
1993: Francis Mathey (statt Christiane Brunner), SP; Mathey nimmt Wahl nicht an
2000: Samuel Schmid (statt Rita Fuhrer oder Roland Eberle), SVP
2003: Christoph Blocher (statt Ruth Metzler), SVP statt CVP
2007: Eveline Widmer-Schlumpf (statt Christoph Blocher), SVP
Wilde Bundesräte gab es auch schon vor 1973, der erste war Ernest Chuard (FDP), der 1919 gewählt wurde.
1983 steht Nationalrätin Uchtenhagen als einzige offizielle Kandidatin zur Wahl. Sie wäre bei einer Wahl die erste Bundesrätin. Doch sie sei umstritten gewesen, sagt Historiker Urs Altermatt. Die Kandidatur Uchtenhagens sei von Parteipräsident Helmut Hubacher «ungestüm, vielleicht sogar etwas autoritär» durchgesetzt worden.
«Plötzlich begann man an der Kandidatur Uchtenhagen herumzunörgeln», führt Altermatt aus. Bürgerliche kritisierten sie als zu intellektuell. «Man setzte viel härtere Massstäbe an als bei Männern.»
Viele Bürgerliche wollen also nicht Uchtenhagen wählen und suchen deshalb eine Alternative. Lange im Rennen ist Bundeskanzler Walter Buser. Doch am Abend vor der Wahl sagt er ab. Historiker Urs Altermatt ist überzeugt: «Man hätte Buser gewählt, wenn er kandidiert hätte.»
Otto Stich hatte den Kopf, das durchzustehen.
Weil Busers Absage kurzfristig kommt, muss ein anderer Kandidat gefunden werden. «Deshalb war die Nacht so wichtig», erklärt der Historiker. Gesucht ist nun jemand, dem zugetraut wird, sich dem Druck der Parteileitung zu widersetzen.
«Otto Stich hatte den Kopf, das durchzustehen», meint Urs Altermatt. Eine wichtige Rolle spielt dabei FDP-Nationalrat Felix Auer. Er weibelt bei Parlamentariern für seinen Studienfreund Stich und führt Überzeugungstelefonate.
Das Leben von Otto Stich
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Otto Stich wird am 10. Januar 1927 in Basel geboren. Im Alter von 20 Jahren tritt er der SP bei, war Handelslehrer und später Personalchef von Coop Schweiz.
In seiner Heimatgemeinde Dornach (SO) amtet Stich von 1957 bis 1965 als Gemeindepräsident und von 1963 bis 1983 ist er Nationalrat.
Nach seiner Wahl in den Bundesrat übernimmt er das Finanzdepartement und setzt sich dort gegen die Verschuldung ein, weil diese unsozial sei. Trotzdem wird Stich – auch in seiner SP – populär, weil er sich im Bundesrat vehement für soziale Anliegen starkmacht.
1995 tritt Stich zurück. Am 13. September 2012 stirbt er in Dornach.
Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz
Auer ist es auch, der durch die Reihen im Nationalrat geht und die Politiker mit der Parole «Stich wählen!» zur Stimmabgabe für den Solothurner animiert. So erinnert sich auf jeden Fall der damalige SVP-Präsident Adolf Ogi heute an die Wahl 1983.
Mit Polizeieskorte nach Bern
Die Wahl von Otto Stich ist mit 124 Stimmen gegen 96 für Lilian Uchtenhagen deutlich. Gleich nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses merkt Nationalratspräsident André Gautier an: «Otto Stich wird in etwa 45 Minuten hier eintreffen und seine Erklärung zur Wahl abgeben.»
Die Wahl am 7. Dezember 1983
Otto Stich nimmt seine Wahl an, erklärt aber: «Ich habe mich nicht um das Amt gerissen. Und eine Frau würde zweifellos dem Bundesrat wohl anstehen.» Und er blickt bereits voraus auf Kritik, die ihn in den nächsten Tagen in den Medien erwartet, wo er als «Ladykiller» gebrandmarkt wird. «Viele Frauen werden enttäuscht sein, auch weite Teile meiner Partei.»
SP diskutierte Rückzug aus Bundesrat
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Nach der Wahl von Otto Stich und der Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen folgen Wochen, in denen die SP das politische System der Schweiz infrage stellt.
Die Sozialdemokraten diskutieren, ob sie unter diesen Umständen weiter im Bundesrat bleiben sollen.
An einem Parteitag im Februar 1984 stimmen schliesslich rund 60 Prozent der Anwesenden für einen Verbleib der SP in der Landesregierung.
Damit darf Otto Stich SP-Bundesrat bleiben und mausert sich schliesslich zu einem – auch innerhalb der SP – sehr populären Magistraten.
Der Mythos zur Nacht vor der Wahl sei 1983 entstanden, sagt Urs Altermatt. In den letzten Jahren habe die Nacht aber an Wichtigkeit eingebüsst. Der Druck der Parteileitungen auf wilde Kandidierende habe seit der Abwahl von Christoph Blocher massiv zugenommen.
Trotzdem kursieren vor der diesjährigen Wahl viele Gerüchte. Nach der letzten wilden Bundesrätin – Eveline Widmer-Schlumpf – folgten zwar aufwühlende Jahre. Doch mittlerweile sei wieder Ruhe eingekehrt, meint Altermatt. Deshalb schliesst er einen Stich-Moment nicht komplett aus: «Es kommt wieder etwas Bewegung in die Sache.»
«Nacht der langen Messer»
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Der Ausdruck taucht in der Berichterstattung vor Bundesratswahlen stets auf. Allerdings ist der Hintergrund dazu düster. «Die Nacht der langen Messer» geht im deutschsprachigen Raum auf die NS-Zeit zurück. Damals liess Adolf Hitler während des sogenannten «Röhm-Putschs» in einer Nacht Dutzende ihm ungenehme Parteigenossen ermorden und festigte so seine Macht innerhalb der NSDAP.
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