Mit den jüngsten Corona-Lockerungen hatten wohl viele hierzulande den Eindruck: Jetzt geht's aufwärts, das Gröbste ist vorbei. Weltweit gesehen verbreitet sich das Virus allerdings immer schneller. Besonders betroffen sind Nord- und Südamerika. Verschiedene Länder kämpfen bereits mit einer zweiten Welle. Laut SRF-Wissenschaftsjournalistin Katrin Zöfel muss auch in der Schweiz damit gerechnet werden.
SRF News: Muss man damit rechnen, dass auch auf die Schweiz eine zweite Welle zukommt?
Katrin Zöfel: Es gibt eigentlich keinen Grund zu glauben, dass das Schlimmste sicher vorbei wäre. Die recht strengen Massnahmen haben dafür gesorgt, dass die erste Infektionswelle nicht so lange gedauert hat und die Fallzahlen nicht noch mehr in die Höhe geschnellt sind. Das ist gut und ganz klar ein Effekt der politischen Entscheidungen. Aber vorbei ist die Corona-Pandemie auch in der Schweiz nicht. Die grosse Frage ist, wie es jetzt weiter geht. Forscherinnen und Forscher der ETH haben vor einigen Wochen grob skizziert, wie eine zweite Welle hier aussehen könnte. Sie gehen davon aus, dass sie langsamer kommt und nicht so hoch ausfällt wie die erste.
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Und warum sollte das so sein?
Es sind immer noch viele Regeln in Kraft, die es vor Corona nicht gab, auch wenn jetzt viel gelockert wurde. Ausserdem werden Fälle und Infektionsketten durch die Gesundheitsämter nachverfolgt. Das läuft zwar noch nicht perfekt, aber es wirkt in jedem Fall. Und praktisch allen ist inzwischen bewusst, dass das Virus in der Schweiz da ist. Das macht die Leute schon vorsichtiger.
Aber das klingt doch eher beruhigend?
Auf den ersten Blick, ja. Wenn sich die Epidemie in dem Rahmen entwickelt, wie die Forscher es prognostiziert haben, dann muss man nicht mehr befürchten, dass die Krankenhäuser in der Schweiz noch einmal fast ans Limit kommen. Und auch nicht, dass man noch mal die ganze Schweiz runterfahren muss. Das gilt für alle Szenarien, auch die pessimistischen.
Je mehr Abstand in den Schulen und je mehr Homeoffice, umso weniger Opfer.
Aber: Diese zweite Welle kommt sanfter, aber sie kann deutlich mehr Tote fordern als die erste, weil sie länger dauern wird. Einen grossen Einfluss darauf, wie viele Tote es geben wird, haben den Forschern zufolge die Vorgaben für Schulen oder Regelungen fürs Homeoffice. Je mehr Abstand in den Schulen und je mehr Homeoffice, umso weniger Opfer.
Die WHO meldet Tag für Tag neue Rekorde. Ist der Höhepunkt weltweit erreicht?
Da spricht momentan nichts dafür. Passiert jetzt nichts völlig Unvorhergesehenes, wird sich das Coronavirus noch lange halten und weiterverbreiten. Was sich inzwischen wirklich klar zeigt: Länder, die sehr erfolgreich waren, erleben jetzt, nachdem sie wieder geöffnet hatten, eine zweite Welle. Das gilt für Israel und Südkorea oder auch für Portugal und Deutschland. Gleichzeitig rollt in anderen Ländern gerade erst die erste Welle an.
Wir haben jetzt einige Monate Erfahrung mit Corona gesammelt. Was kann man daraus lernen?
Das Virus kann schnell grössere Ausbrüche auslösen. In Südkorea war es ein Feiertag Anfang Mai , an dem junge Menschen in Seoul gefeiert haben. Daraus entstand die zweite Welle, die Südkorea gerade dabei ist, wieder in den Griff zu bekommen. In Deutschland müssen wegen eines Corona-Ausbruchs in einem Schlachtereibetrieb 370’000 Menschen im Landkreis Gütersloh wieder in den Lockdown. In Israel sind 200 der 500 Schulen erst geöffnet und dann wieder geschlossen worden, weil sich dort Hotspots entwickelt hatten. Die Lehre wäre wohl: Öffnungen gibt es im Moment nicht ohne Risiko.
Das Gespräch führte Roger Aebli.