Heute berät der Bundesrat über weitere Entscheide zu Corona und hält dazu am Nachmittag eine Medienkonferenz ab. Die Zahl der Covid-19-Neuinfektionen liegt wieder bei über 1000 pro Tag. Epidemiologe Marcel Tanner erklärt, was das aus wissenschaftlicher Sicht heisst. Offen bleibt, ob der Bundesrat die letzte Phase, die Normalisierungsphase trotzdem ankündigen kann.
SRF News: Sind die Voraussetzungen erfüllt, dass der Bundesrat den Übergang in die Normalisierungsphase bekannt geben kann?
Marcel Tanner: Wir sind sicher auf dem Weg zur Normalisierungsphase. Man sollte nicht nur die Fallzahlen anschauen, sondern man muss die ganze Situation beurteilen. Wir haben einerseits immer noch Einige, die sich impfen lassen wollen. Diese müssen wir mit niederschwelligen Angeboten oder vielleicht in direktem Kontakt ansprechen, wie dies in England gemacht wurde. Man muss auch sehen, dass wir – obwohl die Fallzahlen steigen – keinen entsprechenden Anstieg in der Hospitalisierung und bei der Belegung der Intensivbetten haben, wie wir das im letzten Jahr erlebten als die Risikogruppen noch nicht geimpft waren. Derzeit ist der Anteil der sich Infizierenden und nicht geimpften Risikopersonen (Alter und Vorerkrankungen) weit geringer. Das entspricht den Kriterien für eine Normalisierung.
Normalisierung bedeutet nicht einfach Aufhebung aller Massnahmen, sondern dass wir überdenken, wo die Maskenpflicht noch einen Sinn hat.
Wir sind aber noch nicht an dem Punkt, an dem wir alle Impfwilligen erreicht haben. Da sind noch die jungen Menschen unter zwölf Jahren, die wir noch nicht einbeziehen können. Es gibt auch Menschen, die einen schlechten Zugang zur Impfung haben. Dazu kommen die, die aus den Ferien zurückkehren. Auch sie müssen eingeschlossen werden.
Und Normalisierung bedeutet nicht einfach Aufhebung aller Massnahmen, sondern dass wir überdenken, wo die Maskenpflicht noch einen Sinn hat: in öffentlichen Verkehrsmitteln und in den Innenräumen der öffentlichen Gebäude. Und wir müssen gewährleisten, dass in den Schulen noch regelmässig getestet wird. Auch sollten die Testmöglichkeiten offenbleiben. Wenn die Tests bezahlt werden müssen, stimuliert das nicht unbedingt die Impfwilligkeit, sondern es führt dazu, dass wir den Überblick verlieren, wie sich die Situation entwickelt.
Von einem «Freedom Day» am 1. September sind wir Ihrer Ansicht nach noch ein Stückchen weit weg?
Wir sind zwar noch davon entfernt, aber wir können die Normalisierungsphase in kurzer Zeit einleiten. Ob das am 1. September ist oder nicht, ist unerheblich. Wichtig ist, dass wir nahe davor stehen. Wir müssen den Menschen die Perspektive geben, dass wir vieles in der Hand haben, jetzt wesentliche Schritte zu machen.
Falls der Bundesrat schneller vorgeht, als Sie empfehlen: Wie gross ist die Gefahr aus epidemiologischer Sicht?
Das ist keine grosse Gefahr. Ich glaube, der Bundesrat wird nicht schneller sein, als wir empfehlen, sondern er wird genau diese Punkte beachten und diese Ausblicke geben. Er wird bewusst sagen, dass wir uns auf die Normalisierungsphase zubewegen können und müssen.
Wir müssen die Verantwortung in der Gesellschaft verteilen und nicht einfach alles in Bundes- und Kantonsverantwortung belassen. Dazu stehen die Zeichen gut. Wir warnen nicht, dass nichts geschehen soll, sondern wir unterstützen, dass etwas geschehen kann, wenn gewisse Aspekte konsequent beachtet werden.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.