Zum Inhalt springen

Das letzte Schweizer Dorf Ohne Pass und Staat – Cavaiones langer Weg zur Zugehörigkeit

Die Bewohner von Cavaione GR waren staatenlos. Erst 1874 erhielten sie den Schweizer Pass – ein historischer Sonderfall.

Die Bewohner von Cavaione, einem Dorf oberhalb von Brusio GR im Puschlav, bezeichneten sich früher als Österreicher, Italiener und je nach Situation auch als Schweizer. Cavaione gilt als das letzte Dorf, das der Eidgenossenschaft beitrat, und zwar vor 150 Jahren. Dieses Wochenende wird nun das Jubiläum des abgelegenen Dorfes gefeiert.

Ursprünglich war Cavaione GR ein Weiler von Tirano. Mit der Zeit siedelten sich Menschen hier oben an, 700 Meter über dem Talboden, auf Land, das niemandem gehörte.

Die Geschichte von Cavaione interessiert den bündnerischen Historiker Sacha Zala schon seit seiner Kindheit. Er ist in Campascio aufgewachsen, 700 Meter unter Cavaione, und hat die Geschichte dieses besonderen Dorfes erforscht. «Der Fall Cavaione zeigt, dass die Kontrolle des Staates über das eigene Territorium und die eigene Bevölkerung ein Phänomen ist, das erst im 19. Jahrhundert durch die Bürokratisierung der staatlichen Tätigkeit voll entfaltet hat.»

Bis ins 19. Jahrhundert hinein war es möglich, Lücken im System zu finden – vor allem in einem Grenzgebiet wie diesem. Doch 1874/75 war es vorbei mit der Freiheit: Auch die Bewohnerinnen und Bewohner von Cavaione wurden zu Schweizer Staatsbürgern. Das Bundesparlament musste jedoch einen Sonderkredit bewilligen, damit die Gemeinde Brusio die armen Nachbarn von Cavaione aufnahm.

Wenn man sich gut organisiert, lässt es sich hier gut leben.
Autor: Franco Balsarini Einheimischer

Vor 150 Jahren lebten noch über 100 Menschen ganzjährig in Cavaione. Heute ist der Ort weitgehend verlassen – die meisten Häuser stehen einen Grossteil des Jahres leer. Nur noch acht Personen wohnen dauerhaft im Dorf.

Einer von ihnen ist Franco Balsarini, ein echter Cavaionese. Schon seine Eltern und Grosseltern wuchsen hier auf. Er sagt: «Wenn etwas fehlt – etwa der Safran fürs Risotto –, kann man nicht einfach in fünf Minuten zum Denner oder Migros. Aber wenn man sich gut organisiert, lässt es sich hier gut leben. Wenn man zufrieden ist, kann man überall leben.»

Auch wenn heute kaum mehr Leben im Dorf ist, soll Cavaione nicht ganz verschwinden. Dafür setzt sich die Stiftung Cavaione ein. Sie will das kulturelle Erbe des Dorfs und seiner Landschaft erhalten. «Wir haben hier in Cavaione eine einzigartige Terrassenlandschaft. Es gibt 16 Kilometer Trockenmauern – in extrem steilem Gelände. Wie die Leute früher hier gelebt haben, ist unglaublich,» sagt Luca Plozza, der Präsident der Stiftung Cavaione.

Die Terrassen wurden früher von Hand gebaut und bis heute erhalten. Wegen der grossen Biodiversität sei es wichtig, diese Strukturen zu bewahren. Die Geschichte von Cavaione ist auch eine Geschichte des Überlebens in einer scheinbar vergessenen Welt.

Echo der Zeit, 12.7.2025, 18 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel