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Dolmetschen im Gerichtssaal Wenn der Angeklagte die Vorwürfe vor Gericht nicht versteht

Seit ein paar Jahren kann die Schweiz dank der universellen Gerichtsbarkeit schwere Verbrechen vor Gericht bringen, die in einem anderen Land begangen wurden. In diesen Prozessen braucht es meist Dolmetscherinnen, denn Angeklagte, Opfer und Zeugen verstehen oft keine der Schweizer Landessprachen. Was gilt und welche Probleme stellen sich? Antworten von Gerichtskorrespondentin Sibilla Bondolfi.

Sibilla Bondolfi

Gerichtskorrespondentin

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Sibilla Bondolfi ist seit 2023 Gerichtskorrespondentin von Radio SRF. Davor hat sie für den zehnsprachigen Online-Dienst Swissinfo gearbeitet. Sie ist promovierte Juristin im Bereich Verfassungsrecht und Menschenrechte.

Müssen Prozesse in der Schweiz übersetzt werden?

Teilweise. Zwar kommen gemäss Gesetz Übersetzer zum Einsatz, doch es muss nicht der gesamte Prozess übersetzt werden. In der Schweizer Strafprozessordnung steht: «Ein Anspruch auf vollständige Übersetzung aller Verfahrenshandlungen sowie der Akten besteht nicht.» Nur der wesentliche Inhalt der wichtigsten Verfahrenshandlungen muss übersetzt werden. Was das genau umfasst, ist unklar und unterscheidet sich in der Praxis von Gericht zu Gericht.

Ein Bild von einer Waage in einem Gerichtssaal.
Legende: Seit ein paar Jahren kann die Schweiz schwere Verbrechen vor Gericht bringen, die in einem anderen Land begangen wurden. Shutterstock

Warum ist die unvollständige Übersetzung ein Problem?

Erstens ist es für die angeklagte Person ein Problem, die nicht alles vom Prozess versteht. Und zweitens leidet die Gerichtsöffentlichkeit: Gerade bei internationalen Prozessen würden Medienschaffende und Nicht­regierungs­organisationen aus dem Land, in dem die Verbrechen stattgefunden haben, die heimische Bevölkerung gerne über den Inhalt des Prozesses informieren.

Was spricht denn dagegen, grosszügiger zu übersetzen?

Zeit und Geld. Eine komplette Übersetzung würde das Verfahren in die Länge ziehen und für die ohnehin überlasteten Staatsanwaltschaften einen Mehraufwand bedeuten.

Warum macht ein aktuelles Urteil des Zürcher Obergerichts die Justiz nervös?

Das Zürcher Obergericht hat kürzlich die Anklage gegen den früheren Raiffeisenchef zurückgewiesen, weil die Anklageschrift für den französischsprachigen Mitangeklagten nicht übersetzt wurde. Bis jetzt war es nicht in allen Kantonen üblich, dass die Anklageschrift übersetzt wird. Anklageschriften sind teilweise sehr umfangreich, eine Übersetzung bedeutet für die Staatsanwaltschaften viel Aufwand und Kosten.

Wie könnte man das Problem lösen?

Man könnte das Gesetz präzisieren und genau festlegen, was übersetzt werden muss und was nicht, sodass die Praxis schweizweit gleich ist.

Oder man könnte das Gesetz ändern und in bestimmten Fällen eine komplette Übersetzung vorsehen. Dass dies durchaus möglich ist, zeigen andere Länder: In Deutschland haben arabischsprachige Journalisten im Folterprozess um syrische Geheimdienstler gerichtseigene Simultanübersetzer erhalten. Und in den Niederlanden wurde eine Verhandlung vor dem Bezirksgericht Den Haag über Verbrechen in Syrien nicht nur simultan übersetzt, sondern via personalisierten Web-Link ins Ausland gestreamt.

Echo der Zeit, 16.03.2024, 18 Uhr ; 

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