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Dringliches Energiegesetz Umweltrechtler sieht forcierte Solaroffensive kritisch

Ein Gesetz unter Dach und Fach zu kriegen, kann Jahre dauern. Aktuell geht es aber ganz schnell. Das Parlament hat in nur wenigen Wochen ein Energiegesetz beschlossen. Das wirft grundsätzliche Fragen auf.

Wenn sich einer der prominentesten Bau- und Umweltrechtler der Schweiz so äussert, sollte man genau hinhören: «Das Parlament scheint mir im Moment ausser Rand und Band geraten zu sein. Es kommt mir ein bisschen so vor, als würden sich im Parlament Allmachtsphantasien aufbauen: ‹Wir können ja eigentlich alles. Das heisst, wir können gegen die Verfassung verstossen. Ein bisschen ist ja nicht so schlimm.›»

Das Parlament scheint mir ausser Rand und Band geraten zu sein.
Autor: Alain Griffel Bau- und Umweltrechtler, Universität Zürich

Das sagt Alain Griffel, Professor an der Universität Zürich. Er kritisiert, dass das Parlament mit dem Gesetz für die rasche Realisierung von neuen Anlagen zur Stromproduktion gleich mehrere Verfassungsbestimmungen verletze. «Am zentralsten ist aus meiner Sicht, dass der Gesetzgeber jetzt einen grundsätzlichen Vorrang bestimmter Interessen ins Gesetz schreiben will.»

Vorrang vor dem Umweltschutz

Das Parlament hat nämlich diese Woche bezüglich der beiden geplanten grossen Fotovoltaikanlagen in den Walliser Alpen beschlossen, dass die Realisierung dieser Projekte grundsätzlich Vorrang hat vor dem Umweltschutz. Aber das sei mit der Verfassung nicht vereinbar.

Zweiter Punkt: Das Parlament hat auch ins Gesetz geschrieben, dass für die beiden hochalpinen Fotovoltaikanlagen keine Planungspflicht mehr bestehe. Damit greife das Parlament auch in die verfassungsmässige Hoheit der Kantone ein. Beides kollidiere mit der Verfassung.

Die Frage, die man klar stellen müsste, wäre: Worin besteht die objektive Dringlichkeit?
Autor: Alain Griffel Bau- und Umweltrechtler, Universität Zürich

Schliesslich kritisiert Griffel, dass das Parlament das neue Gesetz für dringlich erklären will. «Die Frage, die man klarstellen müsste, wäre: Worin besteht die objektive Dringlichkeit, die es nicht erlaubt, eine 100-tägige Referendumsfrist und ein auffälliges Referendum abzuwarten?»

Staatspolitischer Flurschaden

Griffel sieht keinen Grund für diese Dringlichkeit. Dabei müsste das Parlament in diesem Fall das Gesetz auch noch dem Volk vorlegen, was es aber nicht tut. Der Rechtsprofessor ist fassungslos angesichts der Arbeit des Parlaments: «Wahnsinn! Es ist wirklich nicht zu glauben.»

Wenn man ihn vor wenigen Monaten angerufen, ihm das Szenario geschildert und ihn gefragt hätte: Halten Sie das in der Schweiz für möglich? «Ich hätte geradeheraus gesagt: absolut unmöglich. Wir sind immer noch ein gut funktionierender Rechtsstaat; ein Verfassungsstaat. Das Parlament nimmt seine Aufgabe als Hüterin der Verfassung ernst.»

Runder Tisch als Alternative

Er könne das heute leider nicht mehr sagen. Fazit: Alain Griffel sieht einen staatspolitischen Flurschaden. Und das Parlament schaffe mit dem neuen Gesetz auch einen Rohrkrepierer. Der Schnellschuss werfe zahlreiche neue juristische Fragen auf, die geklärt werden müssen und die das Ganze noch viel komplizierter machen dürften.

Am Freitag kommt das neue Gesetz zur Schlussabstimmung nochmals in die Räte. Als Alternative sieht Griffel nur einen Weg: in mühseliger Kompromissarbeit an runden Tischen Energieprojekte gemeinsam vorwärtstreiben und diese dann in normalen Verfahren durchziehen.

Echo der Zeit, 28.09.2022, 18:00 Uhr

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