Die Schweiz und Neutralität: Das gehört zusammen wie Licht und Schatten. Man kann sich das eine nicht ohne das andere vorstellen – zumindest hierzulande.
Das Prinzip der Neutralität geniesst in der Schweizer Bevölkerung eine sehr hohe Zustimmung. 95 Prozent der Schweizer finden, dass das Land daran festhalten soll. Und eine Mehrheit sieht in der Neutralität sicherheitspolitische Funktionen, wie die ETH-Studie zum Thema Sicherheit zeigt.
Neutralität gehört zu den wichtigsten Grundsätzen der Schweizer Aussenpolitik. Sie bedeutet, dass sich die Schweiz nicht an bewaffneten Konflikten zwischen anderen Staaten beteiligt.
Doch der Begriff hat sich durch die Jahrhunderte gewandelt. Und was im Rahmen der Neutralität erlaubt ist und was nicht, steht immer wieder zur Debatte.
Letztmals deutlich wurde das, als der Nationalrat über die Erklärung «Stopp der Kriegsverbrechen in Syrien» in der vergangenen Woche diskutierte und verabschiedete. Darin wurde der Bundesrat aufgefordert, «alles in der Macht der Schweiz stehende» zu unternehmen, um mit Hilfe der UNO einen sofortigen Waffenstillstand zu erreichen.
Aber ist eine solche Erklärung mit der Neutralität der Schweiz überhaupt vereinbar? «Wir müssen klar Stellung beziehen. Heute!», argumentieren Linke. «Neutralität heisst auch: Zurückhaltung, Selbstbeherrschung, Nichteinmischung», finden Rechte.
Die ETH-Studie «Sicherheit 2018» vom Mai 2018 zeigt zwar, dass nahezu allen Schweizern die Neutralität wichtig ist. Allerdings: Nur noch 52 Prozent sind dafür, dass die Schweiz bei politischen Konflikten im Ausland klar Stellung für die eine oder andere Seite beziehen, bei militärischen Konflikten aber neutral bleiben sollte. Das ist der tiefste Wert seit Beginn der Messung im Jahr 1993.
Für die Autoren der Studie ist damit klar: «Das Neutralitätsverständnis scheint sich in den letzten Jahren verändert zu haben.» Die Akzeptanz einer differenziellen Auslegung der Neutralität schwinde. Das weise «auf eine striktere Auslegung des schweizerischen Neutralitätsverständnisses hin».
«Kampfzone im Zentrum Europas»
Die Neutralität sei dem Land beim Wiener Kongress 1814/15 in verbindlicher Weise zugeschrieben worden, erklärt der Basler Historiker Georg Kreis. Damals ging es vor allem darum, zu vermeiden, dass die Schweiz erneut «eine militärische Kampfzone im strategisch wichtigen Zentrum Europas wird».
In der Zwischenkriegszeit (1918-1939) hätte eine Überhöhung der Neutralität im schweizerischen Selbstverständnis eingesetzt, sagt Kreis. Diese habe man im Zweiten Weltkrieg «teilweise» verletzt. «Die Zulassungen im Gotthardbahn-Transit oder Munitionslieferungen aus Staatsbetrieben waren neutralitätswidrig.»
In der Nachkriegszeit (nach 1948) hat die Schweizer Neutralität gemäss Kreis dann «eine weitere Steigerung – über die elementaren völkerrechtlichen Verpflichtungen der Haager Konvention von 1907 hinaus – erfahren».
Und heute? Auch aktuell ringt die Schweiz mit der Auslegung ihrer Neutralität. Denn wie im Fall Syrien werde «humanitäres Engagement, auch wenn nicht politisch, nicht von allen als neutral eingestuft», ist Georg Kreis überzeugt.
Dass Neutralität nicht gleich Neutralität ist, ist auch für den Friedens- und Konfliktforscher Laurent Goetschel klar – besitze sie doch eine variierende Konjunktur.
SRF News: Wie wird der Begriff der Neutralität von den einzelnen politischen Lagern benutzt?
Laurent Goetschel: Neutralität eignet sie sich als Projektionsfläche für unterschiedliche aussenpolitische Vorstellungen. Linke und Grüne sehen in der Neutralität eine Verpflichtung und wollen aktiv zur internationalen Friedensförderung beitragen. Für konservative Kreise hingegen ist die Neutralität die Verpflichtung zu grösstmöglicher aussenpolitischer Zurückhaltung.
Heisst neutral heute noch das Gleiche wie vor hundert Jahren?
Generell hat sich die Nutzung der Neutralität durch die verschiedenen politischen Akteure seit dem Ende des Kalten Krieges wenig verändert. Sie ist in der Regel in den politischen Debatten nicht sehr präsent. Gewisse Themen oder Situationen können jedoch zu einem Wiederaufflammen von Neutralitätsdebatten führen.
Typische solche Beispiele sind Fragen im Umgang mit internationalen Sanktionen, die nicht von den Vereinten Nationen verhängt werden, sondern von anderen für die Schweiz relevanten Staatengruppen, wie beispielsweise der Europäischen Union (EU).
Die Schweiz wird dank der Neutralität als eigenständiger politischer Akteur wahrgenommen.
Geht es da um Neutralität oder parteipolitische Profilierung?
Den Parteien geht es immer auch um Politik. Das ist ihre Daseinsberechtigung. Sie interpretieren die Neutralität und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen in Übereinstimmung mit ihren grundsätzlichen aussen- und friedenspolitischen Vorstellungen.
Verletzt der aktuelle Auftrag des Parlaments in Sachen Syrien den Begriff der Schweizer Neutralität?
Nein, denn die Neutralität bezieht sich nicht auf sachpolitische Fragen. Sie bezeichnet die Haltung in einem Konflikt. Das sind zwei grundsätzlich verschiedene Aspekte. Die Erklärung des Parlaments beinhaltete einen Aufruf an alle Parteien im Syrienkonflikt.
Wie muss sich der Bundesrat jetzt verhalten?
Der Bundesrat ist autonom in der Umsetzung der Aussenpolitik. Die Erklärung des Nationalrats gibt ihm Rückendeckung und Unterstützung in den erwähnten Punkten. Die Erklärung deckt sich im Übrigen weitestgehend mit der bisherigen aussenpolitischen Linie des Bundesrates.
Gab es vergleichbare Forderungen vom Parlament schon einmal?
Es sind mir keine bekannt. Zu Beginn des Krieges im Irak im Jahre 2003 hat das Parlament von der Neutralitätserklärung der Regierung zustimmend Kenntnis genommen.
Hat sich die Wahrnehmung der Schweizer Neutralität im Ausland in den letzten Jahren verändert?
Die Neutralität ist positiv besetzt. Gerade im Bereich der internationalen Friedensförderung werden damit viele Erwartungen verbunden. Die Schweiz wird dank der Neutralität als eigenständiger politischer Akteur wahrgenommen. Damit verbunden wird keine absolute Abstinenz, sondern ein eigenständiger und der Sache verpflichteter Einsatz gegen Kriege und für die zivile Friedensförderung. Dazu gehören auch aktive Leistungen im Bereich der Mediation.
Das Gespräch führte Viviane Bischoff.