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Ein Grundprinzip im Wandel Neutral – was heisst das schon?

Die Neutralität ist stark in der Bevölkerung verankert, aber auch den Launen der Politik unterworfen.

Die Schweiz und Neutralität: Das gehört zusammen wie Licht und Schatten. Man kann sich das eine nicht ohne das andere vorstellen – zumindest hierzulande.

Das Prinzip der Neutralität geniesst in der Schweizer Bevölkerung eine sehr hohe Zustimmung. 95 Prozent der Schweizer finden, dass das Land daran festhalten soll. Und eine Mehrheit sieht in der Neutralität sicherheitspolitische Funktionen, wie die ETH-Studie zum Thema Sicherheit zeigt.

Neutralität gehört zu den wichtigsten Grundsätzen der Schweizer Aussenpolitik. Sie bedeutet, dass sich die Schweiz nicht an bewaffneten Konflikten zwischen anderen Staaten beteiligt.

Doch der Begriff hat sich durch die Jahrhunderte gewandelt. Und was im Rahmen der Neutralität erlaubt ist und was nicht, steht immer wieder zur Debatte.

Letztmals deutlich wurde das, als der Nationalrat über die Erklärung «Stopp der Kriegsverbrechen in Syrien» in der vergangenen Woche diskutierte und verabschiedete. Darin wurde der Bundesrat aufgefordert, «alles in der Macht der Schweiz stehende» zu unternehmen, um mit Hilfe der UNO einen sofortigen Waffenstillstand zu erreichen.

«Stopp der Kriegsverbrechen in Syrien»: so hat der Nationalrat abgestimmt

Fraktion
JaNeinEnthaltungen
SVP
0
577
SP3900
FDP2506
CVP2700
Grüne1200
BDP700
GLP600
Total1165713



Quelle: parlament.ch
, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen

Aber ist eine solche Erklärung mit der Neutralität der Schweiz überhaupt vereinbar? «Wir müssen klar Stellung beziehen. Heute!», argumentieren Linke. «Neutralität heisst auch: Zurückhaltung, Selbstbeherrschung, Nichteinmischung», finden Rechte.

Video
Portmann, Köppel und Arslan während der Nationalratsdebatte
Aus News-Clip vom 29.05.2018.
abspielen. Laufzeit 31 Sekunden.

Die ETH-Studie «Sicherheit 2018», Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen vom Mai 2018 zeigt zwar, dass nahezu allen Schweizern die Neutralität wichtig ist. Allerdings: Nur noch 52 Prozent sind dafür, dass die Schweiz bei politischen Konflikten im Ausland klar Stellung für die eine oder andere Seite beziehen, bei militärischen Konflikten aber neutral bleiben sollte. Das ist der tiefste Wert seit Beginn der Messung im Jahr 1993.

Für die Autoren der Studie ist damit klar: «Das Neutralitätsverständnis scheint sich in den letzten Jahren verändert zu haben.» Die Akzeptanz einer differenziellen Auslegung der Neutralität schwinde. Das weise «auf eine striktere Auslegung des schweizerischen Neutralitätsverständnisses hin».

«Kampfzone im Zentrum Europas»

Die Neutralität sei dem Land beim Wiener Kongress 1814/15 in verbindlicher Weise zugeschrieben worden, erklärt der Basler Historiker Georg Kreis. Damals ging es vor allem darum, zu vermeiden, dass die Schweiz erneut «eine militärische Kampfzone im strategisch wichtigen Zentrum Europas wird».

In der Zwischenkriegszeit (1918-1939) hätte eine Überhöhung der Neutralität im schweizerischen Selbstverständnis eingesetzt, sagt Kreis. Diese habe man im Zweiten Weltkrieg «teilweise» verletzt. «Die Zulassungen im Gotthardbahn-Transit oder Munitionslieferungen aus Staatsbetrieben waren neutralitätswidrig.»

Eine kurze Geschichte der Neutralität

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Neutral ist die Schweiz de facto seit 1516. Ein Jahr zuvor waren Truppen der alten Eidgenossenschaft das letzte Mal aktiv an einem bewaffneten Konflikt beteiligt. Siegreich aus der Schlacht von Marignano gingen die Franzosen hervor, die Schweizer mussten eine bittere Niederlage einstecken.

Der Anfang
Ein Jahr nach der Schlacht schloss die Eidgenossenschaft mit Frankreich einen wegweisenden Frieden, der im Rückblick als Anfang der schweizerischen Neutralität gilt. Künftige Konflikte sollten vor einem Schiedsgericht geregelt werden. Auf der Basis dieser Übereinkunft mit Frankreich hielt sich die Schweiz während mehr als 200 Jahren aussenpolitisch stark zurück. Erst 1798, als französische Truppen ins Land einmarschierten, musste die Neutralität gezwungenermassen vorübergehend aufgegeben werden.

Offiziell festgehalten haben die europäischen Grossmächte die schweizerische Neutralität ein erstes Mal im Vertrag von Paris vom 20. November 1815. Die Machthaber von Österreich, Grossbritannien, Portugal, Preussen und Russland respektierten, dass sich die Schweiz künftig aus militärischen Händeln heraus halten wollte. Die Mächte garantierten zudem die territoriale Unverletzlichkeit der Schweiz.

Ein völkerrechtliches Prinzip

Das Neutralitätsrecht ist Teil des Völkerrechts. In den Haager Abkommen von 1907 wurden die Rechte und Pflichten neutraler Staaten erstmals schriftlich festgehalten. Zu den Pflichten gehört neben der Nichtteilnahme an Kriegen auch die Selbstverteidigung.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs trat die Schweiz dem Völkerbund bei und war auch bereit, Wirtschaftssanktionen mitzutragen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bekräftigte die Schweiz ihre Neutralität, indem sie die Armee mobilisierte und damit ihre Bereitschaft signalisierte, ihr Territorium zu verteidigen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nannte der Bundesrat Neutralität in einem Atemzug mit Solidarität. Das bedeutet, dass die Schweiz an friedensfördernden Aktionen im Ausland teilnehmen kann. So etwa 1953 in Korea zur Überwachung des Waffenstillstands zwischen Nord und Süd. Nach dem Ende des Kalten Krieges passte der Bundesrat den Neutralitätsbegriff den veränderten aussen- und sicherheitspolitischen Gegebenheiten an.

Stärker als bisher betonte die Regierung die Kooperation. So hält der Bundesrat ein Engagement im Rahmen der vom Militärbündnis NATO initiierten «Partnerschaft für den Frieden» als mit der schweizerischen Neutralität vereinbar, «da kein NATO-Beitritt gefordert wird und keine Verpflichtung zum militärischen Beistand im Falle von Konflikten entsteht.»
UNO als Massstab

Im Zusammenhang mit den Konflikten in Irak und Jugoslawien in der Zeit seit 1991 musste der Bundesrat jeweils beurteilen, wie weit das Engagement der Schweiz als neutraler Staat reichen darf. Unterstützt die Schweiz Wirtschaftssanktionen? Werden Überflugrechte gewährt? Kann Armeepersonal zur Friedenssicherung in die Konfliktgebiete entsandt werden? Als zentraler Massstab bei der Beurteilung dieser Fragen dient die Haltung der UNO.

Solange eine militärische Operation ohne UNO-Mandat stattfindet, wie etwa 1999 gegen Jugoslawien, verhält sich die Schweiz strikt neutral. Das heisst: Überflugrechte für Kampfflugzeuge werden nicht gewährt. Einer Beteiligung an humanitären Aktionen steht hingegen nichts im Weg.

Sobald ein Mandat der UNO vorliegt, gewährt die Schweiz auch Transitrechte, jedoch nicht für Kampfeinsätze, sondern nur für humanitäre Transporte. Ähnlich verhält sich die Schweiz auch bei Sanktionen. Erst wenn die UNO ein Embargo verhängt, so geschehen gegen den Irak 1991, zieht die Schweiz mit.

Artikel von Swissinfo

In der Nachkriegszeit (nach 1948) hat die Schweizer Neutralität gemäss Kreis dann «eine weitere Steigerung – über die elementaren völkerrechtlichen Verpflichtungen der Haager Konvention von 1907 hinaus – erfahren».

Und heute? Auch aktuell ringt die Schweiz mit der Auslegung ihrer Neutralität. Denn wie im Fall Syrien werde «humanitäres Engagement, auch wenn nicht politisch, nicht von allen als neutral eingestuft», ist Georg Kreis überzeugt.

Neutralitätsverständnisse

Absolute/integrale Neutralität
1815 – 1920 und
1938 – 1953
Die Schweiz bleibt sowohl bei wirtschaftlichen Sanktionen wie auch bei militärischen Massnahmen neutral.
Differenzielle Neutralität
1920 – 1938 und
1990 – heute*
Die Schweiz beteiligt sich zwar an wirtschaftlichen Sanktionen, aber nicht an militärischen Massnahmen.
Aktive Neutralität
1953 – 1989
Die Schweiz beteiligt sich nicht an wirtschaftlichen Sanktionen, aber an friedensfördernden Massnahmen. Durch eine aktive und solidarische Aussenpolitik hat die Schweiz die Möglichkeit, auf diplomatischer Ebene an verschiedenen friedensfördernden Missionen teilzunehmen.



* Wird heute jedoch nicht mehr als solche bezeichnet  /  Quelle: ETH-Studie «Sicherheit 2018»

Dass Neutralität nicht gleich Neutralität ist, ist auch für den Friedens- und Konfliktforscher Laurent Goetschel klar – besitze sie doch eine variierende Konjunktur.

Laurent Goetschel

Laurent Goetschel

Professor für Politikwissenschaft

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Laurent Goetschel lehrt an der Universität Basel und ist Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace in Bern. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Friedens- und Konfliktforschung sowie die europäische Integration.

SRF News: Wie wird der Begriff der Neutralität von den einzelnen politischen Lagern benutzt?

Laurent Goetschel: Neutralität eignet sie sich als Projektionsfläche für unterschiedliche aussenpolitische Vorstellungen. Linke und Grüne sehen in der Neutralität eine Verpflichtung und wollen aktiv zur internationalen Friedensförderung beitragen. Für konservative Kreise hingegen ist die Neutralität die Verpflichtung zu grösstmöglicher aussenpolitischer Zurückhaltung.

Heisst neutral heute noch das Gleiche wie vor hundert Jahren?

Generell hat sich die Nutzung der Neutralität durch die verschiedenen politischen Akteure seit dem Ende des Kalten Krieges wenig verändert. Sie ist in der Regel in den politischen Debatten nicht sehr präsent. Gewisse Themen oder Situationen können jedoch zu einem Wiederaufflammen von Neutralitätsdebatten führen.

Typische solche Beispiele sind Fragen im Umgang mit internationalen Sanktionen, die nicht von den Vereinten Nationen verhängt werden, sondern von anderen für die Schweiz relevanten Staatengruppen, wie beispielsweise der Europäischen Union (EU).

Die Schweiz wird dank der Neutralität als eigenständiger politischer Akteur wahrgenommen.

Geht es da um Neutralität oder parteipolitische Profilierung?

Den Parteien geht es immer auch um Politik. Das ist ihre Daseinsberechtigung. Sie interpretieren die Neutralität und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen in Übereinstimmung mit ihren grundsätzlichen aussen- und friedenspolitischen Vorstellungen.

Verletzt der aktuelle Auftrag des Parlaments in Sachen Syrien den Begriff der Schweizer Neutralität?

Nein, denn die Neutralität bezieht sich nicht auf sachpolitische Fragen. Sie bezeichnet die Haltung in einem Konflikt. Das sind zwei grundsätzlich verschiedene Aspekte. Die Erklärung des Parlaments beinhaltete einen Aufruf an alle Parteien im Syrienkonflikt.

Wie muss sich der Bundesrat jetzt verhalten?

Der Bundesrat ist autonom in der Umsetzung der Aussenpolitik. Die Erklärung des Nationalrats gibt ihm Rückendeckung und Unterstützung in den erwähnten Punkten. Die Erklärung deckt sich im Übrigen weitestgehend mit der bisherigen aussenpolitischen Linie des Bundesrates.

Gab es vergleichbare Forderungen vom Parlament schon einmal?

Es sind mir keine bekannt. Zu Beginn des Krieges im Irak im Jahre 2003 hat das Parlament von der Neutralitätserklärung der Regierung zustimmend Kenntnis genommen.

Hat sich die Wahrnehmung der Schweizer Neutralität im Ausland in den letzten Jahren verändert?

Die Neutralität ist positiv besetzt. Gerade im Bereich der internationalen Friedensförderung werden damit viele Erwartungen verbunden. Die Schweiz wird dank der Neutralität als eigenständiger politischer Akteur wahrgenommen. Damit verbunden wird keine absolute Abstinenz, sondern ein eigenständiger und der Sache verpflichteter Einsatz gegen Kriege und für die zivile Friedensförderung. Dazu gehören auch aktive Leistungen im Bereich der Mediation.

Das Gespräch führte Viviane Bischoff.

Die Umfrage der ETH

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Die Jahresstudien «Sicherheit» der Militärakademie (MILAK) an der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit dem Center for Security Studies der ETH Zürich dienen der Trendermittlung in der aussen- und sicherheitspolitischen Meinungsbildung in der Schweiz. Sie stützen sich auf im Jahresrhythmus durchgeführte repräsentative Befragungen der Stimmbevölkerung.

Die Datenerhebung 2018 fand zwischen dem 4. Januar und dem 30. Januar statt. Für die Studie wurden 1209 Schweizer Stimmbürger aus der Deutsch- und Westschweiz sowie dem Tessin befragt. Die Interviews wurden telefonisch durch das Meinungsforschungs-Institut LINK durchgeführt. Der Stichprobenfehler bei einem Sicherheitsgrad von 95 Prozent liegt im ungünstigsten Fall bei ±2,8 Prozentpunkten.

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