Seit Grossbritannien im Sommer definitiv eine Altersidentifizierung eingeführt hat, sind viele Netz-Beobachterinnen und -Beobachter beunruhigt. Das anonyme Netz sei am Ende, sagen sie. Das Internet als offener Ort des Austauschs sei akut bedroht.
Chaos in Grossbritannien
Marcel Waldvogel sieht das auch so. Er war lange Jahre Professor für Informatik in Konstanz und arbeitet heute für einen grossen Schweizer Konzern als IT-Sicherheitsspezialist. Bekannte in Grossbritannien hätten ihm erzählt, dass Chaos herrsche. Man müsse für viele Dienstleistungen neu bei «Identitätsverifikatoren» seine Identitätskarte hochladen, ohne genau abschätzen zu können, wie seriös oder dubios diese Anbieter seien.
Waldvogels Informationen decken sich mit Medienberichten aus Grossbritannien. So muss bei der Musikplattform Spotify plötzlich das Alter verifiziert werden. Auch Social-Media-Dienste und Diskussionsforen haben Altersabfragen eingeführt. Dies nicht nur bei unverdächtigen Dienstleistungen, sondern auch auf Porno-Seiten.
Das Gesetz sei eingeführt worden, ohne dass man sich überlegt habe, wie man das Problem technisch löse, sagt Waldvogel: «Das ist die dümmste Kombination, die man machen kann.»
Marcel Waldvogel sieht eine Gratwanderung zwischen Kinderschutz und Anonymität. Grundsätzlich bräuchten die Menschen Räume im Netz, wo man Dinge ausprobieren könne, die dann auch wieder vergessen gingen, sagt Waldvogel. «Wir brauchen ein bestimmtes Mass an Anonymität im Netz.»
Technisch schwierige Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen
Auf der anderen Seite stehen die Anliegen des Kinder- und Jugendschutzes. Technisch gesehen sei aber die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen im Netz «extrem schwierig». Es funktioniert eigentlich nur, wenn alle Nutzerinnen und Nutzer ihre Identität preisgeben und ein offizielles Dokument wie ID, Reisepass oder Fahrausweis hochladen.
Grossbritannien ist mit seiner Altersschranke nicht alleine. Auch die EU lässt zurzeit eine Lösung von Mitgliedsstaaten testen. Australien hat eine Altersgrenze ab 16 Jahren für Social Media beschlossen. In der Schweiz soll auf Anfang 2027 eine Online-Altersprüfung für Filme und Games eingeführt werden, möglicherweise basierend auf der E-ID. Eine Altersverifikation ist bereits heute Pflicht im Online-Handel mit Alkohol und Tabak.
Waldvogel stimmt also den E-ID-Kritikern grundsätzlich zu, die warnen, das Grundrecht auf Anonymität sei bedroht. Aber: Überraschenderweise unterstützt Waldvogel die E-ID-Pläne des Bundes. Er sagt, die Altersverifikation im Netz sei nicht mehr aufzuhalten. Die E-ID sei ein Fortschritt. Sie erlaube, der Gegenseite nur die wirklich benötigten Informationen weiterzugeben.
E-ID als kleineres Übel
E-ID-Befürworter wie Kritikerinnen sind sich also weitgehend einig. Beide sind beunruhigt über die schwindende Anonymität im Netz. Befürworter setzen auf eine datenschutzfreundliche Umsetzung, quasi als kleineres Übel. Die Gegnerinnen lehnen die Lösung rundweg ab.
Offen bleibt zurzeit, ob sich weltweit eine datensparsame Lösung durchsetzt. Oder ob das Modell Grossbritannien sich durchsetzt – ohne einheitliche technische Lösung. Dann wäre eine Restsubstanz an Anonymität wohl definitiv bedroht.