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Experte zu Fall Maudet «Wir können uns nicht leisten, eine bezahlte Demokratie zu haben»

Die Schweiz hat ein geringes Sensorium für Interessenskonflikte, sagt Strafrechtler und Korruptionsexperte Mark Pieth.

Die Genfer Justiz hat Ermittlungen gegen den kantonalen Regierungspräsidenten Pierre Maudet angekündigt. Dem obersten Polizeidirektor wird Vorteilsnahme vorgeworfen. 2015 sei er mit seiner Familie auf Einladung des Kronprinzen an ein Formel-1-Rennen nach Abu Dhabi gereist – die Flüge und die Unterkunft für mehrere zehntausend Franken wurden vom Scheich bezahlt. Maudets Immunität dürfte wegen des Falls bald aufgehoben werden.

Staatsrechtler Mark Pieth zur Rechtslage und der Wichtigkeit von Transparenz in Milizparlamenten.

Mark Pieth

Rechtswissenschaftler

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Mark Pieth ist Antikorruptionsexperte und Strafrechtsprofessor an der Universität Basel.

SRF News: Herr Pieth, wie beurteilen Sie den Fall Maudet?

Mark Pieth: Der Tatbestand der Vorteilsnahme ist eine schwache Form der Bestechungsannahme. Ich muss dafür, dass ich einen unerlaubten Vorteil kriege, nicht unbedingt eine illegale Handlung begehen. Es reicht, dass ich ihn annehme. Das Entscheidende, das im Gesetz steht, ist aber: ‹... im Hinblick auf die Amtsführung›. Das heisst, die Vorteilsannahme braucht einen Bezug zum Amt.

Wenn ich als Beamter ein Geburtstagsgeschenk kriege, ist das nicht automatisch illegal.

Welchen Unterschied macht es, ob eine Reise privat oder im Amt ist?

Dieser Artikel ist deshalb so formuliert, um Beamten zu ermöglichen, dass sie auch private Geschenke annehmen können – wir haben ja alle ein Privatleben. Wenn ich als Beamter ein Geburtstagsgeschenk kriege, ist das nicht automatisch illegal.

Aber eine Reise an ein Formel-1-Rennen klingt auch privat.

Das ist so. Ich kenne den Fall nicht im Detail. Wenn ich mir diese Reise allerdings von einem Amtsträger bezahlen lasse und es nachher mit einem offiziellen Staatsbesuch verbunden wird, sieht die Sache möglicherweise ganz anders aus.

Auch wenn Pierre Maudet, so weit bekannt ist, keine Gegenleistung in Aussicht gestellt hat?

Wir reden hier nicht von Bestechlichkeit. Es geht einzig darum, dass jemand einen Vorteil fordert, sich versprechen lässt oder annimmt, der ihm nicht gebührt. Was er dafür tut, spielt in dem Kontext keine Rolle.

Wo liegen die Grenzen des Erlaubten?

Das Wichtige ist: Überwiegt das Private oder der Bezug zum Amt? Die Schwierigkeit in diesem Fall scheint zu sein, dass die Wahrnehmung von Maudet anders ist als die Wahrnehmung der Amtsträger in Abu Dhabi. Vielleicht haben die Leute, die ihn eingeladen haben, den Amtsbezug in den Vordergrund gestellt.

Die Schwierigkeit scheint zu sein, dass die Wahrnehmung von Maudet anders ist als die der Amtsträger in Abu Dhabi.

Man muss sich auch fragen, warum sie ihm das gegeben haben. Was ist so interessant an Herrn Maudet? Warum haben sie nicht uns eingeladen, sondern ihn? Stellen Sie sich diese Frage, dann kommen Sie der Sache möglicherweise viel näher.

Haben Sie eine Antwort?

Ich gebe bewusst keine, denn sonst würde ich versuchen, den Fall zu lösen. Das ist Sache der Genfer Justiz.

Eidgenössische Ratsmitglieder sind für die Wahrung ihrer Unabhängigkeit selbst verantwortlich. Was sagen Sie dazu?

Ich halte das für hochproblematisch. Das Problem bei Parlamentariern in einem Milizparlament ist ja gerade, dass sie in Gefahr sind, für ihre Arbeit von Dritten bezahlt zu werden. Und wir können uns nicht leisten, eine bezahlte Demokratie zu haben.

Wir haben in der Schweiz ein sehr geringes Sensorium für Interessenskonflikte.

Wir müssten uns zumindest zu mehr Transparenz durchringen. Wenn wir nicht verbieten, dass die Leute Geschenke annehmen, dann müssten wir wenigstens als Wähler wissen, von wem sie wie viel angenommen haben.

Empfehlungen für Parlamentarier

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Den neu gewählten eidgenössischen Ratsmitgliedern wird ein Schreiben mit Informationen über das Korruptionsstrafrecht und Empfehlungen rund um die Annahme von Geschenken zugesandt. Darin steht: «Es liegt in der Selbstverantwortung der Ratsmitglieder zu entscheiden, wann ihre Unabhängigkeit durch die Annahme von Geschenken oder anderen Vorteilen eingeschränkt wird.»

Täuscht der Eindruck, dass sich in der Schweiz solche Fälle häufen?

Man hat vor nicht allzu langer Zeit eine wissenschaftliche Untersuchung im Baubereich angestellt und festgestellt: Es gibt wenig plumpe, offene Bestechlichkeit in der Schweiz. Es gibt aber ein starkes Patronage-Netzwerk. Wir haben in der Schweiz ein sehr geringes Sensorium für Interessenskonflikte. Und wir müssen uns überlegen, ob wir uns das leisten können.

Das Gespräch führte Samuel Wyss.

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