Zum Inhalt springen

Fangewalt im Fussball Kollektivstrafen gegen Krawalle: Jurist hinterfragt Wirksamkeit

Fussballfans aus der ganzen Schweiz wollten am Samstag gemeinsam gegen Kollektivstrafen demonstrieren – also Strafen, die ganze Gruppen von Fussballfans betreffen. Letztlich tauchte doch niemand in Bern auf. Dass die Polizei umsonst mit einem Grossaufgebot vor Ort war und auf die Fussballfans wartete, sei Zeichen genug für ihren Protest, geht aus einem Statement verschiedener Fankurven hervor.

Der Jurist Tim Willmann forscht an der Universität Bern zu Polizei und Fussballfans. Er sagt: Kollektivstrafen führen teilweise zum Gegenteil von dem, was sie eigentlich beabsichtigen.

Tim Willmann

Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen Uni Bern

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Tim Willmann ist Jurist und wissenschaftlicher Assistent am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern. Die Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen wurde im Mai 2017 mit der Unterstützung der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren KKJPD, dem Bundesamt für Verkehr BAV, dem Bundesamt für Sport BASPO, den Schweizerischen Bundesbahnen SBB, der Swiss Football League SFL und der Swiss Ice Hockey Federation SIHF am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern gegründet. 2020 wurde die Forschungsstelle an das Institut für Strafrecht und Kriminologie angegliedert.

SRF News: Wie kommen Sie zum Schluss, dass Kollektivstrafen nicht die erhoffte Wirkung erzielen?

Tim Willmann: Der Begriff sagt es bereits: Es wird ein ganzes Kollektiv bestraft und nicht nur eine einzelne Person. Die Forschung zeigt, dass die Legitimität von Massnahmen einen entscheidenden Faktor darstellt. Wenn eine Gruppe von Personen undifferenziert als potenzielle Gefahr behandelt wird, kann die Legitimität als sehr gering wahrgenommen werden.

Was ist aus Ihrer Sicht das konkrete Problem an solchen Massnahmen?

Sperrungen ganzer Fansektoren wurden bereits mehrfach verfügt. Ziel davon ist etwa, dass man die Gästefans nicht ins Stadion lassen möchte. Häufig werden solche Massnahmen allerdings als nicht legitim erachtet, und die Fans reisen trotzdem an den Spielort. Eine solche Reisebewegung lässt sich in der kleinräumigen Schweiz kaum unterbinden.

Kaskadenmodell für Strafmassnahmen

Box aufklappen Box zuklappen

Die Swiss Football League hatte sich mit Clubs, SBB, Polizei und anderen Behörden abgesprochen und vorgeschlagen, für Fangewalt bei Fussballspielen nach Schwere gestaffelte Strafmassnahmen für alle Kantone gleich festzuschreiben. Dieses sogenannte Kaskadenmodell war Ende September präsentiert worden. Ziel ist die Einführung in der Saison 2024/25.

Massnahmen daraus wurden jedoch in einzelnen Kantonen bereits verhängt, bevor über das Kaskadenmodell entschieden ist. Dies bringt Fan-Gruppierungen auf die Palme, zumal sie bei der Ausarbeitung des Modells nicht einbezogen wurden

Das Kaskadenmodell sieht fünf Stufen vor.

  • Stufe eins: Clubs und Fans müssen sich mit den Behörden austauschen.
  • Die zweite Stufe sieht Stadionzutritt nur noch mit Video-Gesichtserkennung vor.
  • Auf Stufe drei wird die Fankurve der Akteure geschlossen.
  • Stufe vier sieht ein Geisterspiel und fünf Spiele auf Bewährung vor.
  • Bei Stufe fünf verweigern die Behörden die Bewilligung für ein Spiel, was eine Forfait-Niederlage für den Heimclub bedeutet. – Personalisierte Tickets sieht der Entwurf nicht vor.

Dem Hooligan-Konkordat von 2012 gehören Basel-Stadt und Baselland als einzige Kantone nicht an. FCB-Fans können dennoch betroffen sein, namentlich von Strafmassnahmen in anderen Kantonen. Das Konkordat ermöglicht unter anderem landesweite Rayonverbote für Fehlbare.

Zudem sind die Stadien häufig nicht ausverkauft. Gästefans können sich dann ohne Probleme Tickets für einen Sektor mit Heimfans kaufen. Die Folgen sind gravierend: Die Sicherheitslage wird nicht verbessert, sondern unter Umständen sogar verschlechtert. Auch vor dem Stadion kann die Trennung der Fangruppen schwieriger als im Normalfall werden, weil Gästefans etwa mit regulären Zugverbindungen statt mit einem Extrazug anreisen.

Gibt es ein Spiel, bei dem eine solch gefährliche Situation eintreten könnte?

Am 4. Februar empfängt der FC Luzern den FC St. Gallen. Für dieses Spiel wurde eine Sperrung des Gästesektors verfügt. Es wird erwartet, dass die St. Galler Fans auf eigene Faust anreisen werden. Dasselbe haben die Fans des FC Luzern im letzten Sommer getan, als der Gästesektor in St. Gallen gesperrt worden war.

Die Fans von St. Gallen könnten dann am Bahnhof Luzern landen und von dort zum Stadion gelangen. Quer durch die Stadt und am Luzerner Fanlokal vorbei. Dort gab es im Mai letzten Jahres Auseinandersetzungen, mit denen die Sektorsperren an den nachfolgenden Spielen der beiden Teams begründet wurden. Das Spiel am 4. Februar wird vermutlich eine grössere Herausforderung für alle beteiligten Parteien, als es ein reguläres Super-League-Spiel wäre.

Welche Massnahmen könnten besser wirken?

Box aufklappen Box zuklappen
Fussballfans brennen Pyromaterial ab
Legende: Keystone/Peter Klaunzer

Aus Sicht von Tim Willmann gibt es im Umgang mit den Fankurven zwar nicht «die eine Lösung. Denn wenn es sie gäbe, wäre sie bereits umgesetzt». Allerdings zeige die Forschung, dass dialogbasierte Ansätze grundsätzlich eine gute Wirksamkeit erreichen würden. Gemeint sind damit Absprachen zwischen den einzelnen Akteuren: Klubs, Behörden und den Fans. «Die Fans müssen dann – je nach Situation – auch gewisse Kompromisslösungen eingehen», so der Jurist.

Eine hohe Wirksamkeit würde auch die Einzeltäterverfolgung zeigen, also konsequente Strafverfolgung der effektiv delinquenten Personen. Das Hooligan-Konkordat ermöglicht es zudem, straffällige Personen mit Fernhaltemassnahmen und Meldeauflagen zu belegen. «Diese Massnahmen treffen ausschliesslich die gewaltausübenden Personen und nicht ein ganzes Kollektiv von Hunderten bis Tausenden von Fans.»

Kollektivstrafen sind sehr unpopulär bei den Fans, wie Störaktionen am Samstag zeigen. Belegt das nicht gleichzeitig, dass die Strafen wirken und die Fans dort treffen, wo es schmerzt?

Natürlich ist der Ausschluss von Spielen aus Fan-Sicht schlimm. Es ist aber nicht wie bei einem konkreten Stadionverbot ein Ausschluss für eine delinquente Person, sondern für ein ganzes Kollektiv. Es kann durchaus sein, dass sich normale Fans mit der organisierten Fanszene solidarisieren. Denn auch gewöhnliche Fans sind von einer solchen Kollektivmassnahme betroffen. Schlussendlich kann den Behörden eine viel grössere Personengruppe gegenüberstehen, als es bei einem regulären Spiel der Fall wäre.

Stellungnahme der Berner Young Boys

Box aufklappen Box zuklappen

Am Samstag beim Spiel BSC YB gegen GC ist zwar die Fankurve im Wankdorfstadion wegen der Kollektivstrafe leer geblieben. Einige hundert Fans sind aber trotzdem ins Stadion in den Sektor C gerade neben der Fankurve gelangt, haben vermummt Parolen gegen den Berner Sicherheitsdirektor skandiert und Pyros gezündet.

Albert Staudenmann, der Medienchef der Young Boys, äussert sich gegenüber Radio SRF wie folgt: «Wir hatten an dieser Aktion keine Freude und klären nun ab, wie es überhaupt dazu kommen konnte.» Einige seien wohl von einem anderen Sektor über einen Zaun in den Sektor C geklettert. Dies müsse möglich sein als Fluchtweg, im Hinblick auf mögliche Eskalationen. Andere, die normalerweise in der Kurve seien, hätten ein Ticket im Sektor C ergattert – durch Kauf oder Tausch, obwohl dies eigentlich verboten gewesen wäre. Der YB-Mediensprecher betont, dass sich im Stadion niemand ohne gültiges Ticket aufgehalten habe. Aber es sei unmöglich, jede einzelne Person am Eingang zu kontrollieren.    

Das Gespräch führte Can Külahcigil.

SRF 4 News, 22.01.2024, 6:47 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel