- In der lateinischen Schweiz werden psychisch kranke Menschen häufiger ambulant behandelt als in Deutschschweiz. Das zeigt sich im neusten Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan .
- Dieser Unterschied führt möglicherweise dazu, dass die Patienten in der lateinischen Schweiz häufiger starke Beruhigungsmittel erhalten.
- Fachleute sind überrascht vom Befund und sehen die Unterschiede in der psychiatrischen Praxis kritisch.
Erich Seifritz, Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, kennt die schweizerische Psychiatrielandschaft wie seine Westentasche. Ihn hat am aktuellen Obsan-Bericht erstaunt, «wie unterschiedlich sich die Organisation, Versorgungsstrukturen und Angebote in den verschiedenen Kantonen darstellen.»
Überrascht hat Seifritz vor allem der Befund: In der lateinischen Schweiz wird ein Mensch mit einer akuten Psychose eher ambulant behandelt, in der deutschen Schweiz dagegen eher stationär. Ein Grund für diese unterschiedliche Versorgungsstruktur ist unser föderalistisches System. Die Kantone sind für die Gesundheitsversorgung zuständig.
Dürftige Datenlage
Was die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Strukturen für die Patientinnen und Patienten sind, ist aber nicht bekannt. Die Daten zu diversen Parametern in der psychiatrischen Versorgung seien dafür zu wenig detailliert, sagt Seifritz. «Zum Beispiel wissen wir nicht genau, wie lange die Wartezeiten für eine ambulante Therapie in den verschiedenen Kantonen sind.»
Kerstin von Plessen, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Lausanne, bestätigt, dass die Datenlage dürftig ist. «Wie kann es sein, dass es innerhalb eines Landes so grosse Unterschiede bei den Leistungserbringern gibt?», fragt die Professorin. Für sie braucht es eine Angleichung der psychiatrischen Grundsätze über die Regionen hinweg. «Wir müssen uns fragen, wie wir das gemeinsam verantworten können.»
Umstrittene Beruhigungsmittel
Denn es ist auch möglich, dass die unterschiedliche Gesundheitsstruktur zu einer unterschiedlichen Medikamentierung führt. So zeigt zumindest ein anderer Obsan-Bericht, dass in der lateinischen Schweiz die Patienten von den ambulanten Ärzten häufiger sogenannte Benzodiazepine, also starke Beruhigungsmittel, verschrieben bekommen. Diese machen schnell süchtig und sind darum umstritten.
Van Plessen bedauert, dass bei der ambulanten Abgabe von Medikamenten weniger klar ist, nach welchen Richtlinien diese verschrieben werden. Die Schweiz ist ein kleines Land mit riesigen Unterschieden. Wenn es um die Gesundheit von Menschen geht, kann man sich aber fragen, wie sinnvoll das ist.