Eigentlich hat André Seidenberg seinen Arztkittel an den Nagel gehängt. Doch jetzt, angesichts der Krise, arbeitet der 70-Jährige wieder. Im Zürcher Impfzentrum ist er für das Impfen von besonders gefährdeten Personen mitverantwortlich. Als ehemaliger Arzt darf er das. «Die Impfung ist ein Hauptfaktor, der aus der Pandemie herausführen kann», begründet Seidenberg sein Engagement, «und wenn ich etwas dazu beitragen kann, ist es natürlich toll.»
Bereits in den 1980er-Jahren war Seidenberg bei der Bekämpfung eines Virus hautnah dabei: Als sich HIV in der offenen Drogenszene ausbreitete. Als Notfallarzt betreute Seidenberg die Abhängigen auf dem Zürcher Platzspitz, reanimierte sie bei Überdosen.
Wir haben jetzt diese Impfung. Für HIV gibt es auch nach 40 Jahren noch keine Impfung.
Der Medizinier kämpfte für saubere Spritzen, um das Elend zu lindern und die Ausbreitung des HI-Virus zu stoppen. Ein grosser Unterschied zur Bekämpfung des Coronavirus? «Wir haben jetzt diese Impfung», erklärt Seidenberg, «für HIV gibt es auch nach 40 Jahren noch keine Impfung.» Dieser Unterschied sei «riesig».
«Ein grosses Glück»
Mit seinem freiwilligen Engagement ist André Seidenberg nicht der Einzige. Viele pensionierte Ärztinnen und Ärzte haben sich im Kanton Zürich gemeldet. Sieben von ihnen arbeiten jetzt im Impfzentrum mit, andere stehen bereit. Sie kommen wie in Bern auch zum Einsatz, sobald genügend Impfdosen vorhanden sind.
Die erfahrenen Ärzte sind für den Infektiologen Jan Fehr von der Universität Zürich «ein grosses Glück». Der Chef von André Seidenberg sagt, es geht um mehr, als bloss Personen aus der Vergangenheit zu mobilisieren. «Diese Leute sind besonders gut, weil sie langjährige Erfahrung haben und ein gutes Gespür für die Risikobevölkerung.»
Das feine Sensorium nützt André Seidenberg bei den Beratungen vor der Impfung. Dafür nimmt er sich viel Zeit und gibt den Patientinnen und Patienten Raum. Einige erlebten im Impfzentrum emotionale Ausbrüche, schildert Seidenberg: «Es bricht manchmal regelrecht aus den Leuten heraus, wie fest sie isoliert waren und wie gut das Gefühl ist, jetzt herauszukommen». Viele erzählten, wie schwierig das letzte Jahr für sie gewesen sei.
Es bricht manchmal regelrecht aus den Leuten heraus, wie fest sie isoliert waren.
Solche Momente bewegen den 70-Jährigen, die Einsamkeit kann Seidenberg aus eigener Erfahrung nachvollziehen. «Wir alle hatten ein Problem, was man mit der Zeit macht», bilanziert der Zürcher über das vergangene Jahr. Die Arbeit im Impfzentrum sei für ihn deshalb auch eine Abwechslung.
Im Gegensatz zu den Patienten, bei denen André Seidenberg die Spritze ansetzt, ist er selbst bereits geimpft. Das Risiko einer Ansteckung hält er für gering, auch weil er fitter sei als manche in seinem Alter.
Dennoch ist ihm die Angst einer Ansteckung und die Auseinandersetzung mit dem Tod nicht fern. «Ich bin ein alter Mann, natürlich ist der Tod näher», sagt der Zürcher, «aber der Tod war mein ganzes Leben lang als Arzt sehr nahe.» Ein paar Mal habe er sich auch mit HIV-kontaminiertem Material verletzt. «Einmal hat mir jemand mit einer arteriellen Blutung ins Auge gespritzt», sagt er. «Daher kenne ich diese Angst gut.»