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Generationenkonflikt im Spital «Eine 42-Stunde-Woche – da haben Sie den Beruf verfehlt»

Viele junge Medizinerinnen und Mediziner kritisieren die hohe Arbeitsbelastung. Dies führt zu Konflikten mit der älteren Generation.

Othmar Schöb ist Professor für Viszeral- und Thoraxchirurgie an der Klinik Hirslanden – ein Spitzenmediziner. Der 61-Jährige arbeitet 80 Stunden pro Woche, bereits um 6 Uhr morgens ist er als einer der Ersten im Spital. Die Forderung der jungen Generation nach einer 42+4-Stunden-Woche beurteilt er kritisch. «Das ist definitiv zu wenig für unseren Beruf», sagt er in der «Rundschau».

Das fordern die jungen Ärzte und Ärztinnen

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Der Verband Schweizer Assistenz- und Oberärzte fordert die 42+4-Stunden-Woche. Das bedeutet: Die wöchentliche Sollarbeitszeit für Assistenzärztinnen und -ärzte beträgt durchschnittlich 42 Stunden Dienstleistung rund um die Patientenbetreuung. Zusätzlich haben sie Anrecht auf wöchentlich mindestens vier Stunden strukturierte Weiterbildung, die ebenfalls als Arbeitszeit gilt.

Ein Spitzensportler, der gross herauskommen wolle, trainiere auch mehr als ein Hobbysportler, ist Schöb überzeugt. Aktuell gilt eine 50-Stunden-Woche für Assistenzärzte. Schöb findet das zu wenig. Er müsse die jungen Mediziner oft heimschicken, obwohl sie gerne mehr arbeiten und operieren würden.

«Erfahrung kommt nicht beim Biken»

Rückendeckung erhält er von einem alten Studienkollegen. Martin Meuli (68) war chirurgischer Direktor des Zürcher Kinderspitals. Er sagt, Patienten hätten die bestmögliche Behandlung verdient. Doch um wirklich sattelfest zu sein, brauche eine Chirurgin oder ein Chirurg viel Erfahrung im OP-Saal: «Diese Erfahrung kommt nicht beim Spazierengehen oder beim Biken», sagt Meuli.

Doch die junge Generation sieht das anders: Laura Biondi (26) hat vor zwei Monaten im Spital Thurgau als Assistenzärztin in der Chirurgie gestartet. Ihre Generation wolle und müsse Familie und Beruf vereinbaren: «Es ist eine Realität der heutigen Generation, dass wir uns vermehrt Teilzeitarbeit wünschen und die Work-Life-Balance ein Thema ist. Man muss Lösungen finden, sonst stehen wir irgendwann ohne Nachwuchs da.»

Ein Drittel der Studierenden erwägt Berufswechsel

Mit dieser Einschätzung steht Biondi nicht alleine da. Laut einer Umfrage erwägt ein Drittel der Medizinstudierenden nach den ersten Praxiserfahrungen bereits einen Berufswechsel. Der Grund: Überstunden, Stress, Ruhezeiten, die nicht eingehalten werden, und der grosse Anteil an administrativen Aufgaben.

Ihr wurde die hohe Arbeitsbelastung im Spital zu viel: Vor zwei Jahren startete Rebekka Vermeer (32) im Kanton Tessin als Assistenzärztin. Ihre Tage waren lang, die Verantwortung riesig: Im Extremfall war sie für 12 schwerkranke Patienten verantwortlich. Bereits nach fünf Wochen kündigte sie. Die Reaktion ihres Vorgesetzten schüchterte sie damals ein: «Es hiess, wenn ich mir eine 42-Stunden-Woche vorstelle, habe ich meinen Beruf verfehlt, dann sei ich am falschen Ort.»

Junge Frau
Legende: Rebekka Vermeer (32) entschied sich nach fünf Wochen dazu, ihre Stelle als Assistenzärztin zu kündigen. SRF

Laut einer Umfrage der NZZ arbeiten fast 40 Prozent der Assistenzärztinnen und -Ärzte mehr als 11 Stunden pro Tag – eine Stunde länger als gesetzlich vorgeschrieben. In derselben Umfrage geben 80 Prozent an, dass sie schon Fehler gemacht haben, weil sie überarbeitet oder übermüdet gewesen sein.

Der Spitzenchirurg Othmar Schöb macht schliesslich nach einem 14-Stunden-Tag Feierabend. Seine Familie musste er einmal mehr vertrösten, dass er später nach Hause kommt. Dafür kann er der Familie der letzten Patientin eine gute Botschaft überbringen. Auch seine neunte Operation an diesem Arbeitstag ist gut verlaufen.

Rundschau, 28.02.24, 20.05 Uhr;kobt

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