Rund hundertmal pro Jahr lassen Frauen abtreiben, nur weil das werdende Kind das falsche Geschlecht hat, wie Daniel Surbek sagt. Der Direktor der Berner Frauenklinik hat seine Erfahrungswerte aus Bern hochgerechnet auf die ganze Schweiz.
Manche Frauen wollten die geschlechtliche Zusammensetzung ihrer Familie bewusst steuern, sagt er. Andere hätten klar kulturelle oder religiöse Gründe und trieben Mädchen ab, weil diese an sich weniger erwünscht seien.
Gleichheit von Mann und Frau schützen
«Jetzt ist der Moment da, wo Grundwerte für die die Gesellschaft einsteht – Gleichheit von Frau und Mann – geschützt werden müssen», betont der Gynäkologe. Er findet richtig, dass der Nationalrat heute Nachmittag wohl beschliessen wird, dass Eltern das Geschlecht des Ungeborenen erst nach der zwölfwöchigen Frist für eine legale Abtreibung erfahren dürfen.
Pascale Bruderer kämpft seit Jahren für diesen Schritt. «Bei dieser neuen Gesetzgebung geht es einzig darum, eine Hintertüre wieder zu schliessen, die aufgrund neuer technologischer Möglichkeiten geöffnet worden ist», sagt die SP-Ständerätin. Gentests, die Krankheiten oder Behinderungen aufspüren, werden immer häufiger. Als Nebenbefund wird das Geschlecht des Embryos gleich mitbestimmt.
Kritik der Ethikkommission
Die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin hat sich von Beginn an gegen ein Mitteilungsverbot gestellt. Abtreibungen wegen des Geschlechts seien selten – zu selten, um in das Recht der Eltern auf Wissen einzugreifen, begründet Kommissionspräsidentin und Rechtsprofessorin Andrea Büchler.
Mit einem Verbot der Mitteilung des Geschlechts würde der Gesetzgeber quasi behaupten, es gebe gute und schlechte Selektion. Und das ist ganz klar Diskriminierung.
Zudem rüttle ein Mitteilungsverbot an dem wichtigen Prinzip, dass sich der Staat bisher zu den Gründen einer Abtreibung in den ersten zwölf Wochen ausdrücklich nicht geäussert hat. «Das stellt der Gesetzgeber nun wieder infrage, wenn er den Anspruch erhebt, zwischen erlaubten und verbotenen Gründen für eine Abtreibung unterscheiden zu können», kritisiert Büchler.
Eingriff in die Selbstbestimmung der Frau?
Bruderer widerspricht der Juristin. «Dass die Fristenregelung jetzt genutzt wird, um sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden, einzig weil es das falsche Geschlecht hat, war nie so gedacht.» Das Mitteilungsverbot sei daher kein Problem, stellt die Ständerätin fest.
Die Ethikkommission aber führt ein weiteres Argument ins Feld: Die Politik schreite zwar gegen Abtreibungen wegen des Geschlechts ein, zu Abtreibungen wegen einer Krankheit oder einer Behinderung äussere sie sich aber weiterhin nicht. Diese neue Unterscheidung sei ein heikles Signal, findet Büchler.
Nächster Schritt: lebenswertes Leben?
«Mit einem Verbot der Mitteilung des Geschlechts würde der Gesetzgeber ja nicht per se Selektionsentscheidungen verhindern, sondern er würde quasi behaupten, es gebe gute und es gebe schlechte Selektion. Und das ist ganz klar Diskriminierung», stellt Büchler fest und fordert, dass der Gesetzgeber ganz grundsätzlich davon absehen sollte, Embryonen mit bestimmten Eigenschaften mehr als andere zu schützen.
Es geht nicht um die Lebenswertigkeit verschiedener Kinder, sondern um die Frage, soll das Geschlecht als Kriterium für eine Abtreibung hinzugezogen werden.
Öffnet die Politik hier Tür und Tor für eine heikle Diskussion über lebenswertes und weniger lebenswertes Leben? Bruderer geht diese Befürchtung zu weit. «Es geht nicht um die Lebenswertigkeit verschiedener Kinder, sondern um die Frage, soll das Geschlecht als Kriterium für eine Abtreibung hinzugezogen werden. Und ich möchte einzig und allein dabei bleiben, und nicht neue Fragen aufwerfen.»
Diese neuen Fragen stehen allerdings bereits im Raum: Die Ethikkommission hat sie aufgeworfen.