Der letzte Winter brachte Schnee in so grossen Mengen wie lange nicht mehr. Für die bedrohten Schweizer Gletscher verhiessen die Schneemassen Schutz vor der Sommersonne hoch am Berg. Doch die erhoffte Entspannung ist nicht eingetreten.
Der grösste Gletscher der Alpen, der Aletschgletscher, ist bereits seit Juli schneefrei. Auch dieses Jahr können sich die gefrorenen Wasserspeicher kaum erholen. Der Gletscherexperte David Volken warnt, dass der Gletscherschwund sogar doppelt so schnell vorangehen könnte, wie bisher angenommen.
Schmelzwasser strömt aus dem Aletsch
Konkordiaplatz heisst der Ort, wo der Aletschgletscher seine grösste Ausdehnung erreicht. Hier ist das Eis bis zu 900 Meter dick. Doch es schmilzt und das Schmelzwasser vereint sich zu tosenden Bächen. Pro Sekunde fliessen über 90'000 Liter Schmelzwasser ab. Nach wie vor ist es viel zu warm für die Jahreszeit.
Von April bis Ende Juli herrschten in der Schweiz Temperaturen wie sie in den letzten 150 Jahren noch nie gemessen wurden. Es war sogar knapp heisser als im Hitzesommer 2003. Volken sagt deshalb: «Die Schweizer Gletscher werden dieses Jahr wieder einen massiven Schwund erleben.»
Mindestens zweieinhalb bis drei Prozent würden verschwinden. Wenn die Hitzewelle bis Mitte September andaure, könnten es am Schluss sogar bis vier Prozent Gletscherschwund sein, meint der Experte.
Tourismus behilft sich mit Schneedepots
Nicht weit entfernt vom Aletschgletscher liegt das Jungfraujoch, das jährlich bis zu einer Million Touristen anlockt. Die meisten von ihnen sehen zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee und Eis.
Die Touristen merken nichts davon, dass mittlerweile auch das vermeintlich «ewige Eis» ins Schwitzen gerät. Andreas Wyss, der Abwart des Jungfraujochs, sorgt dafür, dass sich das Winterwunderland in strahlendem Weiss präsentiert. Wenn nötig wird dafür über Nacht Schnee auf das Eis gekarrt.
Wyss erklärt: «Wir haben unsere Depots, die wir schon im Winter anlegen. Wenn nötig wird der Schnee in der Nacht mit dem Pistenfahrzeug hingestossen, so dass der Gast ohne Probleme auf den Gletscher raus kann.»
Unheimliche Beschleunigung
Vor 30 Jahren habe es hier noch ständig geschneit, auch im Sommer. Mittlerweile sei es anders. Heute regne es auch auf 3500 Meter häufig. Tatsächlich ist die Schneegrenze auf dem Aletschgletscher in den letzten Jahren immer weiter nach oben gewandert. Mittlerweile liegt sie auf über 3000 Meter. So kann sich kaum mehr neues Eis bilden.
Es muss einem schon zu denken geben, wie schnell die Entwicklung im Moment vonstattengeht.
2003 sprach man beim Hitzesommer noch von einem 500-jährlichen Ereignis, erinnert sich der Gletscherexperte Volken. Nun habe man bald jeden zweiten oder dritten Sommer so ein Ereignis: «Es muss einem schon zu denken geben, wie schnell die Entwicklung im Moment vonstattengeht.»
Kleine Gletscher sind bis in 30 Jahren verschwunden
Am deutlichsten manifestiert sich der Gletscherschwund ganz vorne an der Zunge. Sogar der mächtige Aletschgletscher leidet gewaltig. Beim Gletschertor geht die Zunge jedes Jahr um 30 bis 50 Meter zurück. In den letzten 30 Jahren verschwand ein ganzer Kilometer an Eismassen.
Volken geht davon aus, dass vom Aletschgletscher bis Ende des Jahrhunderts nur noch knapp zehn Prozent Eismasse übrig sein werden. Noch trister fällt seine Prognose für die kleineren und mittleren Schweizer Gletscher unterhalb von 3000 Metern aus: Schon in knapp 30 Jahren werde nichts mehr davon zu sehen sein.