Wegen starker Schmerzen ging ein Mann in den Notfall. Im Spital wurde ein Leistenbruch diagnostiziert. Nach der Operation ging es dem Mann plötzlich miserabel. Fünf Stunden später war er tot – gestorben an einem geplatzten Aneurysma, das die Ärzte übersehen hatten.
Die Tochter des Verstorbenen ist überzeugt: Ihr Vater könnte noch leben, hätte das Personal rechtzeitig ein CT gemacht. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, doch für eine Anklage reichte es nicht. Dennoch möchte die Tochter wissen: War die Falschdiagnose ein Fehler, der passieren kann – oder war es Schlamperei?
Doch das Bundesgericht hat entschieden, dass die Familie die Akten aufgrund des Patientengeheimnisses nicht einsehen darf. Einer der Richter rät stattdessen: Die Angehörigen sollen das Spital verklagen.
Hohe Beweisanforderungen
Doch so einfach ist das nicht. «Dieser Richter hat offenbar noch nie Prozesse geführt», sagt der Anwalt der Familie, Stephan Kinzl von Schadenanwälte. «Ein Prozess kostet.» Bei unklaren Erfolgsaussichten finanziere niemand den Prozess, weder eine Rechtsschutzversicherung noch die unentgeltliche Rechtspflege.
Das Bundesgericht verlange, dass man einen Arzt vor Gericht zerre, der vielleicht überhaupt keinen Fehler gemacht habe. «Ich persönlich würde das nie machen», so Kinzl. «Ein Anwalt, der einen Arzt ins Blaue verklagt, finde ich unseriös. Aber genau das verlangt das Bundesgericht!»
Allgemein sei es schwierig, Spitäler oder Ärzte zu verklagen. Man müsse beweisen, dass der Fehler zum Gesundheitsschaden geführt habe. «Die Beweisanforderungen sind hoch, weil das Bundesgericht im Gegensatz zur EU immer strenger wird.»
Dass die Hürden hoch seien, bestätigt auch Claudia Busslinger, Beraterin bei der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO). «Die meisten Patienten, die sich bei uns melden, wollen nicht den Arzt hinter Gitter bringen, sondern Geld für ihren Schaden.» Es tue ihr immer leid, wenn Patienten leer ausgingen, obwohl sie einen schweren körperlichen Schaden davongetragen hätten. «Ich wünschte mir, es gäbe in der Schweiz einen Fonds wie in Belgien oder Frankreich.» Dort werde jeder Patient diskussionslos entschädigt, der nach einer Behandlung schlechter dran sei als vorher.
Prozess ist eine psychische Belastung
Laut Franziska Sprecher, Direktorin des Zentrums für Gesundheitsrecht an der Universität Bern, werden die jüngsten Urteile des Bundesgerichts in der Lehre noch ein Echo geben, weil damit die schwierige Ausgangslage für geschädigte Patientinnen und Patienten in Haftpflichtfällen bestätigt worden sei.
Weil jeder Prozess eine psychische und finanzielle Belastung sei, würden die meisten Fälle aussergerichtlich beigelegt. «Grundsätzlich ist das gut, weil der Patient Kosten sparen und Nerven schonen kann und trotzdem eine Form der Anerkennung sowie eine Entschädigung bekommt», sagt Sprecher. Der Preis sei aber ein Mangel an Transparenz. «Was vorgefallen ist und wie viel das Spital bezahlt, bleibt unter Verschluss.»
Auch die Tochter des unerwartet verstorbenen Patienten sagt: «Mir geht es nicht um Geld, ich möchte Klarheit.» Sie würde sich wünschen, dass das Spital aus dem gemachten Fehler lernt, so dass der Tod ihres Vaters nicht vergeblich gewesen sei.