Am 19. April 1874, genau vor 150 Jahren, sagten die Schweizer Stimmberechtigten Ja zu einer total revidierten Bundesverfassung. Damit hätte die Schweiz dieses Jahr eigentlich erneut Grund, einen politischen Meilenstein zu zelebrieren. Aber kaum jemand nimmt Notiz davon. Der Staatsrechtler Andreas Kley zu möglichen Gründen, warum das so ist.
SRF News: War die Verfassung von 1874 im internationalen Vergleich tatsächlich die progressivste ihrer Zeit?
Andreas Kley: In der Tat hat sie sehr progressive Elemente. Dazu gehört die 1874 eingeführte Direkte Demokratie auf Bundesebene. Andererseits wurden die Katholiken diskriminiert und in die Verfassung wurde ein Kulturkampf-Artikel eingefügt.
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Warum musste die Verfassung schon 26 Jahre nach ihrer Einführung 1848 revidiert werden?
Es mussten rechtliche Lücken gestopft werden. So hatte sich 1870 beim Deutsch-Französischen Krieg gezeigt, dass die Armee rechtlich und was ihre Kompetenzen anging unzureichend ausgestattet war. Zudem wollte man einige Bundeskompetenzen neu begründen, um gewisse Dinge schweizweit einheitlich zu regeln.
1874 wurde via Handels- und Gewerbefreiheit ein etwas einheitlicherer Binnenmarkt geschaffen.
Das Bürgertum nahm in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer stärkeren Anteil im Wirtschafts- und Politsystem, entsprechend verlangte es nach weiteren Freiheiten. So wurde 1874 via Handels- und Gewerbefreiheit auch ein etwas einheitlicherer Binnenmarkt geschaffen.
Welches sind die zentralsten Neuerungen, die 1874 eingeführt wurden?
Die Organisation des Bundes wurde verbessert, die Freiheitsrechte gestärkt. Zudem wurde das fakultative Referendum eingeführt – als Ausgleich dazu, dass die Kantone gewisse Kompetenzen verloren. Fortan konnte mit der Sammlung von 30'000 Unterschriften also eine Volksabstimmung über eine Bundesvorlage verlangt werden.
Die Verfassungsrevision von 1874 muss als bloss halbfreiheitlich und halbrevolutionär bezeichnet werden.
Zugleich wurde das Verbot der Diskriminierung der Juden in die Verfassung aufgenommen – und andererseits aber auch ein Artikel, der die Katholiken diskriminierte. Die Jahre von 1870 bis 1874 waren vom Kulturkampf geprägt, entsprechend wurde quasi dessen Protokoll in die Verfassung von 1874 aufgenommen. Aus heutiger Sicht ist das ein gewisser Schandfleck und ein Gegenbeweis für die freiheitliche Tradition der Schweiz. Die Verfassungsrevision muss deshalb als bloss halbfreiheitlich und halbrevolutionär bezeichnet werden.
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Welche Bereiche der Revision von 1874 wirken bis heute nach?
Die Organisation des Bundes hat sich grundsätzlich seit 1848 und 1874 nicht geändert. Es war ein genialer Streich, eine föderalistische Ordnung zu schaffen, in der man die Kantone beibehält, aber gleichzeitig notwendige Vereinheitlichungen auf Bundesebene schafft. Deshalb wurde nach Vorbild der USA ein Zweikammer-Parlament eingeführt. In diesem System haben sowohl die Kantone als auch das Schweizer Volk eine Stimme. Das hat sich enorm bewährt. Dieses verschachtelte System mit vielen Hemmungen und Bremsen sorgt dafür, dass politische Entscheide langsam und wohlüberlegt fallen.
Ist es ein Fehler, dass zum Gedenken von 150 Jahren Verfassungsrevision kein Festakt stattfindet?
Man könnte den Anlass durchaus feiern – denn dank des fakultativen Referendums wurden etwa die Katholiken in den anschliessenden Jahrzehnten politisch immer wichtiger. Doch um zu feiern braucht es einen Willen. Es braucht das Bedürfnis, die Einigkeit zu zelebrieren. Man kann nicht ins Blaue hinaus feiern.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.