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Ideenwettbewerb in der Schweiz Wie sich Schweizer Ideen über den Röstigraben hinweg verbreiten

Trotz Röstigraben: Erfolgreiche Projekte aus der Deutschschweiz finden oft den Weg in die Romandie – und umgekehrt. Freiburg spielt dabei eine zentrale Rolle.

«Endlich», sagen sich in der Waadt die Eltern schulpflichtiger Kinder. Endlich führt die Waadtländer Schule «Jokertage» ein: Schluss mit Anträgen und Gesuchen, um am Freitagmorgen an ein Familienfest fahren zu dürfen. Sechs Halbtage können Kinder während eines Schuljahrs fehlen, ohne dass ihre Eltern die Absenz begründen müssen. Auch der Kanton Genf will nun Jokertage einführen.

Dass die Jokertage eine Deutschschweizer Erfindung sind und sich in 15 Kantonen längst etabliert haben, ist den Waadtländerinnen und Waadtländern herzlich egal. Das Beispiel zeigt: Gute Ideen verbreiten sich im ganzen Land – trotz Kantönligeist von Ost nach West, von Nord nach Süd, über den Röstigraben hinweg.

«Kooperativer Föderalismus»

Stefan Kunfermann, Sprecher der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK), erstaunt das nicht. «Kooperativer Föderalismus» nennt er das Phänomen. Er sagt: «Im Bildungsbereich gibt es eine lange Tradition in der interkantonalen Zusammenarbeit. Die Kantone lernen voneinander, indem sie sich regelmässig über ihre bildungspolitischen Erfahrungen austauschen.»

SVP-Kantonsrätin Céline Baux hat die Jokertage für die Waadt entdeckt. Sie habe in Freiburg von Jokertagen gehört, wo Welschfreiburger sie wiederum der Deutschschweiz abgeschaut hätten. Also habe sie die Idee in einem Vorstoss ins Waadtländer Kantonsparlament getragen, und dort sei die Zustimmung gross gewesen. Es sei immer einfacher, für eine Idee zu werben, wenn diese in anderen Kantonen bereits etabliert sei, sagt Baux.

Freiburg als Brückenkopf

Das zweisprachige Freiburg ist also buchstäblich der Brückenkopf, bei dem politische Ideen zwischen der Deutsch- und Westschweiz zirkulieren. Mitten auf dieser Brücke sitzt der Freiburger Stadtpräsident Thierry Steiert und beobachtet fasziniert, wie dieser Ideenmarkt funktioniert.

«Es kann sein, dass die Deutschsprachigen in der Kantonsregierung etwas einbringen, was sie über die Fachdirektorenkonferenzen mitkriegen. Es kann natürlich auch im Parlament sein, im Grossen Rat, dass ein Grossrat aus der einen Sprachregion einen Vorstoss macht und eine Lösung vorschlägt, die im Nachbarkanton vielleicht schon existiert.» Wenig erstaunlich ist die linke Universitätsstadt Freiburg selbst ein Ort, der andernorts lancierte Ideen gleich selbst für die ganze Schweiz ausprobiert.

Arbeitskraft malt 30 km/h Zeichen auf Strasse.
Legende: Freiburg testet gerne Ideen: Sie war die erste Stadt, die Tempo 30 auf einem Grossteil des Stadtgebiets, also auch auf den Hauptverkehrsachsen, einführte. Keystone/JEAN-CHRISTOPHE BOTT (02.10.2023)

Die neueste Idee, die dereinst via Freiburg in die Deutschschweiz gelangen könnte, hat die Waadtländer Verkehrsdirektorin Nuria Gorrite am Dienstag in Lausanne präsentiert. Die Waadtländer Regierung hat entschieden, ab 2025 im regionalen öV die Jahresabo-Preise für Jugendliche und Senioren substanziell zu senken.

Setzen dereinst auch Deutschschweizer Kantone auf Gorrites Abo-Verbilligungen? Das könne sich der Freiburger Verkehrsdirektor Jean-François Steiert gut vorstellen: «Gezielte öV-Verbilligung für bestimmte Altersgruppen ist in der Mehrheit der französischsprachigen Kantone ein Thema. Der Umstieg ist in der ganzen Schweiz Thema. Insofern gehe ich davon aus, was heute in den meisten Westschweizer Kantonen ein Thema ist, wird auch in der Deutschschweiz zum Thema werden.»

Ob Jean-François Steiert in Freiburg der nächste Verkehrsdirektor sein wird, der Abopreise verbilligt, kann er heute noch nicht sagen. Das, signalisiert er, sei auch eine Geldfrage.

Echo der Zeit, 20.08.2024, 18 Uhr;kobt

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