Russische Panzer an der Landesgrenze sind längst ein mögliches militärisches Szenario für neutrale Staaten wie Österreich oder die Schweiz geworden. Das sagt Markus Reisner, Historiker und Oberst im österreichischen Bundesheer. «Österreich und die Schweiz sind im Herzen Europas und wichtige geografische Drehscheiben.» Der Krieg mache nicht vor Neutralen halt.
Schon zweimal hatte Österreich sowjetische Truppen direkt an der Grenze: 1956 bei der Niederschlagung des sogenannten Ungarischen Aufstandes und 1968 beim Einmarsch der Roten Armee in der damaligen Tschechoslowakei. Auch Hitlers Armeen missachteten die Neutralität der Niederlande, Luxemburgs und Belgiens bei ihrem Angriff auf Frankreich 1940.
Gefahr durch Luft- oder Cyberangriffe
Neutrale seien eben nicht nur neutral, sondern auch besonders gefährdet, weil sie eben nicht Teil eines militärischen Bündnisses sind, so Reisner weiter. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb 2023: Das grösste militärische Hindernis in Österreich sei die Topografie und nicht die Armee. Ein Landkrieg sei zwar nicht auszuschliessen, betont Reisner, aber die aktuell grösste Bedrohung komme aus der Luft oder resultiere aus Cyberangriffen mit flächendeckenden Blackouts.
Vermehrt spannten Staaten auch die organisierte Kriminalität für einen hybriden Krieg ein. «Es gibt diesen Begriff der ‹Wegwerfagenten›. Das sind Agenten, die quasi um billiges Geld angeworben werden. Das gilt natürlich auch für den Cyberraum. Und damit versucht man hier Schaden zu machen, was natürlich dann entsprechend auch der Wirtschaft enorm zusetzt.»
Wir sollten unser Schicksal selbst in die Hand nehmen und dafür sorgen, dass wir umfassend in der Lage sind, uns auch tatsächlich verteidigen zu können.
Die Bedrohung aus der Luft könne auch einen irrtümlichen Beschuss umfassen, unterstreicht Reisner. So sei vor einigen Jahren etwa eine ukrainische Drohne um 180 Grad falsch abgebogen und dann im Stadtpark der kroatischen Hauptstadt Zagreb gelandet. «Aus meiner Sicht sollten wir unser Schicksal daher selbst in die Hand nehmen und dafür sorgen, dass wir umfassend in der Lage sind, uns auch tatsächlich verteidigen zu können.»
Die grösste aktuelle Gefahr ist für Reisner der hybride Informationskrieg. «Denn der Informationsraum ist jener Raum, wo Russland gerade versucht, unsere Gesellschaften anzugreifen und zu spalten.» Werde dort die Bevölkerung davon überzeugt, dass beispielsweise die Abschreckung keinen Sinn ergebe und Russland kein Gegner wäre, dann drohe Gefahr. Eine Gefahr, die nicht rein theoretisch ist.
Russland lange wichtiger Partner
Die FPÖ etwa sympathisiert mit Viktor Orbáns Ungarn, das sich deutlich vom westlichen Lager entfernt. Sie propagiert eine strikte Neutralität und lehnt sogar eine Beteiligung an dem europäischen Luftabwehr-Beschaffungsprogramm «Sky Shield» ab.
Österreich ist scheinbar nicht so unverrückbar im Westen verankert, wie gemeinhin angenommen. Bis letztes Jahr wurde Russland in der offiziellen österreichischen Sicherheitsstrategie als strategischer und wesentlicher Partner bezeichnet. Die jahrzehntelange Abhängigkeit von russischem Gas war legendär.
Zu sagen, das wird uns alles nicht betreffen und das geht uns nichts an, weil wir neutral sind, ist aus meiner Sicht zu wenig.
Die Bilanz für Neutrale aus Sicht des Obersten und Historikers Reisner lautet: «Wir müssen uns immer auf das Schlimmstmögliche vorbereiten. Und natürlich auch gewisse Wahrscheinlichkeiten beurteilen. Aber zu sagen, das wird uns alles nicht betreffen und das geht uns nichts an, weil wir neutral sind, ist aus meiner Sicht zu wenig.»