Weisse Haare, blaue Augen, flinke Hände. Die 86-jährige Rösy Sidler sitzt hinter der Nähmaschine, in den Händen weisser Stoff. Daraus näht sie die Hemden fürs Klausjagen.
Das Klausjagen in Küssnacht im Kanton Schwyz ist längst mehr als ein lokaler Brauch – es zieht Zehntausende Besucherinnen und Besucher aus nah und fern an.
Punkt 20:15 Uhr am 5. Dezember erlischt das Licht, und Hunderte Iffeler mit ihren kunstvoll verzierten Laternen setzen sich in Bewegung. Begleitet werden sie von den lauten Trychlern und den rhythmischen «Geisslechlöpfern», die den Umzug komplett machen. Alle sind sie in weisse Hemden gekleidet. Es ist ein Umzug, an dem nur Männer teilnehmen dürfen. Über 1500 sind es jährlich.
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Bild 1 von 3. Die Iffelen sind teilweise mehr als zwei Meter hoch. Auf eine Küssnachter Iffele gehört vorne die Figur des St. Nikolaus darauf. Bildquelle: Keystone/Philipp Schmidli.
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Bild 2 von 3. Beim Umzug der Trychler kommen die Hirtenhemden und das Klausentuch zum Zug. Bildquelle: Keystone/Philipp Schmidli.
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Bild 3 von 3. Auch Kinder werden für den Umzug von Rösy Sidler eingekleidet. Bildquelle: Keystone/Alexandra Wey.
Ohne Rösy Sidler käme diese Männertradition ziemlich ins Straucheln. Rösy Sidler näht nämlich seit 34 Jahren fürs Klausjagen die Hirten- und Iffelenhemden. Es ist ihre grosse Leidenschaft. «Es ist mein Herz», sagt die zierliche Frau und fügt hinzu: «Wenn ich nicht mehr nähen kann, bin ich wahrscheinlich nicht mehr lange da.»
Übernommen hat sie diese Aufgabe von ihrer Schwiegermutter, nachdem diese gestorben war. Anfangs dachte sie, das sei unmöglich – sie hatte ohnehin schon genug zu tun. Aber der Schwiegervater liess nicht locker: «Er hat immer wieder ein Tränchen vergossen, so habe ich dann ja gesagt.»
Ein Glück, dass sie zusagte, findet sie selbst. Denn eigentlich wollte Rösy Sidler den Beruf der Schneiderin ausüben, das wurde ihr aber damals untersagt.
So wurde das Nähen zum Hobby – eines, welches für sie nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken ist: «Wenn mich etwas bedrückt, gehe ich ins Nähzimmer, nehme den Stoff und die bereits zugeschnittenen Teile. Ich setze alles zusammen – und dann bin ich wie gelöst. Der Kummer verschwindet.»
Lieferengpässe sorgen für Hektik
Die Arbeit geht ihr nicht aus. Die Anfertigung der Hemden ist eine Jahresaufgabe. Kaum ist das Klausjagen im Dezember vorbei, macht sie sich im Januar an die Schnittmuster und beginnt mit den Näharbeiten. Von Grössen für Kinder bis zur Grösse XXXL ist alles dabei.
Dieses Jahr ist Rösy Sidler spät dran. Das liegt aber nicht an ihr. Der weisse Baumwollstoff kommt aus dem Ausland und dieses Jahr stockte es – es gab Lieferschwierigkeiten. Sie konnte erst im Mai richtig loslegen. Sie schüttelt beim Gedanken unmerklich den Kopf. Möglich sei es, dass sie diesmal nicht allen ihr Hemd nähen kann. Falls nötig leiht sie den Leuten alte Hemden ihrer Familie aus, wenn sie denn passen.
Trotz des Ärgers mit der Lieferung: Wenn am Freitag der Böllerschuss den Start für den Umzug ankündigt, dann geht Rösy Sidler vor die Haustüre, freut sich über die in der Dunkelheit farbig leuchtenden Iffelen, hört den Trychler, Geisslechlöpfern und Musikanten zu: Alle tragen sie das traditionelle weisse Hemd. Die meisten aus ihrem Faden gesponnen. «Es ist so schön. So viele kommen zu mir, um Grüezi zu sagen», sagt die Küssnachterin.
Und auch wenn die Tradition es nach wie vor so will, dass die Teilnahme am Umzug den Männern vorbehalten ist: Die weissen Hirten- und Iffelerhemden, die das Bild des Umzuges prägen, tragen die Handschrift einer Frau – derjenigen von Rösy Sidler.