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Kriegswirren im Onsernonetal «Schwerste Grenzverletzung» dieser Art im Zweiten Weltkrieg

1944 sterben Partisanen auf Schweizer Boden. Sie wurden von Faschisten beschossen. Stolpersteine erinnern nun an die Opfer.

Wild und abgeschieden schlummert das Val Onsernone. Gleich hinter Spruga, dem letzten Dorf im Tal, führt eine schmale Strasse zum Grenzfluss Isorno. In Sichtweite liegen die italienischen Bagni di Craveggia. 1951 zerstört eine Lawine das ehemalige Kurhotel. Heute ist die Ruine mit ihren alten Badewannen ein Tummelplatz für Sonnenhungrige.

Am 18. Oktober 1944 werden die Bäder zum blutigen Kriegsschauplatz. Rund 250 Partisanen begehren Einlass in die Schweiz. Militärisch sind sie zu schwach gegen die Faschisten und die Deutschen, die Norditalien immer noch besetzt halten.

Die Lage ist lebensgefährlich. «Die Geflüchteten sind tagelang marschiert, litten Hunger, waren schwach, müde und teilweise krank», erzählt der Tessiner Historiker Raphael Rues. «Sie sind zudem schlecht bewaffnet und können sich kaum verteidigen.» Erst als sie in grösster Lebensgefahr sind, werden sie über die Grenze gelassen. Die meisten überleben das Feuer der Faschisten. Ein Dutzend wird schwer verletzt. Zwei Männer kommen um.

Aus der sicheren Schweiz zurück in den Kampf

Federico Marescotti wird bereits auf eidgenössischem Territorium von einem Maschinengewehrschuss getötet. In der Forschung ist die Rede von der «schwersten Grenzverletzung» dieser Art im Zweiten Weltkrieg. Ein Steinkreuz erinnert an dieser Stelle an den Ingenieurstudenten aus Mailand.

Renzo Coen, einziger jüdischer Kombattant unter den Partisanen, erliegt am 20. Oktober 1944 im Spital Locarno seinen Verwundungen. Tragischerweise war er bereits wenige Monate zuvor im Tessin als Flüchtling interniert. Aber er will kämpfen, kehrt zurück und schliesst sich dem Widerstand an.

Sie fühlten sich mit den Menschen drüben eng verbunden, man heiratete und schmuggelte über die Grenze.
Autor: Alexander Grass Ehemaliger Tessin-Korrespondent Radio SRF

Schwer verletzt überlebt Adriano Bianchi. Auch er kennt die Schweiz bereits, durfte er doch im Januar 1944 in Genf als Flüchtling studieren. Er hält es jedoch nicht lange aus und übernimmt die Leitung einer Partisaneneinheit. Nach der Schiesserei bei den Bagni di Craveggia wird Bianchi in Locarno gesund gepflegt. Er wird Rechtsanwalt und stirbt 2012 in seiner piemontesischen Heimat.

Sympathie und Solidarität für die Partisanen

Die Partisanen geniessen bei der Tessiner Bevölkerung grosse Sympathien. Schweizer Grenadiere geben Federico Marescotti in Comologno das letzte Geleit.

Kurzlebige Partisanenrepublik

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Italienischen Partisanen gelang es im Herbst 1944, die Täler zwischen Tessin, Wallis und Lago Maggiore zu kontrollieren. Vom 10. September bis zum 23. Oktober 1944 errichteten sie die Repubblica dell’Ossola. In diesem Gebiet mit Domodossola als «Hauptstadt» lebten ungefähr 82'000 Menschen auf 1700 Quadratkilometern.

Die befreite Zone hatte ein eigenes Justiz- und Bildungssystem, Regierung und Verwaltung basierten auf demokratischen Grundsätzen. Sie gilt als Vorbild für die heutige Republik Italien.

Allerdings war der Widerstand den Faschisten und deutschen Besatzern militärisch unterlegen. Das politische Experiment endete nach rund 40 Tagen. Zehntausende, unter ihnen Frauen und Kinder, flohen durch den Simplon ins Wallis oder via Centovalli ins Tessin. Rettung suchten auch jene 250 Partisanen, die bei den Bagni di Craveggia um Einlass baten.

Armando Ghisalberti leistet im Oktober 1944 Aktivdienst. Der junge Tessiner liefert Nachschub für seine Kompagnie. Lebhaft erinnert sich der 102-Jährige an das Drama bei den bagni di Craveggia. Vor den schwer bewaffneten Faschisten und der deutschen SS hatten er und seine Kameraden Respekt. «Die haben schon Menschen erschossen, bevor sie hier auftauchten. Sie waren geübt, Krieg zu führen und Dinge zu tun, die wir nicht taten.» Zum Umfallen müde seien die Geflüchteten gewesen. Dafür glücklich, es heil in die Schweiz geschafft zu haben, die ihnen wie «das letzte Paradies» vorgekommen sei.

Lächelnder älterer Mann auf einem Sessel sitzend.
Legende: Armando Ghisalberti ist pensionierter SBB-Kondukteur. Er leistete Aktivdienst im Onsernonetal in einer Grenadier-Kompagnie und hatte grosses Mitleid mit den Partisanen. Remi Bütler

Die Einheimischen waren solidarisch und trotz bitterer Armut grosszügig. «Sie fühlten sich mit den Menschen drüben eng verbunden, man heiratete und schmuggelte über die Grenze», sagt Alexander Grass. Der frühere Tessin-Korrespondent von Radio SRF kennt eine rührende Anekdote aus Adriano Bianchis Leben. «Sie haben ihn auf einem Tisch in einer ‹Beiz› verarztet und drückten ihm in die eine Hand ein Stück Käse und in die andere ein Stück Schokolade».

An die Tragödie vom 18. Oktober 1944 erinnern nun Stolpersteine für Federico Marescotti, Renzo Coen und Adriano Bianchi.

Schweiz aktuell, 12.8.2025, 19 Uhr;liea

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