Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Die Schweiz hat ihre Rolle im Krieg auf internationalen Druck hin mit der «Bergier-Kommission» aufgearbeitet. Jakob Tanner war Teil davon und ist überzeugt, dass die Reduit-Mentalität die Schweiz nicht weiterbringt.
SRF News: Jakob Tanner – am 8. Mai 1945 dankte der Bundesrat den Soldaten, welche die Schweiz gegen Nazideutschland verteidigt haben. Begann damit die Idee der wehrhaften Schweiz?
Jakob Tanner: Es war eine grosse Erleichterung, ein Aufbruch. Man wusste um die Schattenseiten. Es gab den Spruch: «Die Schweizer arbeiten sechs Tage die Woche für Hitler und beten am Sonntag für den Sieg der Alliierten.» Es gab eine innenpolitische Auseinandersetzung, die aber geschlossen wurde – durch den Kalten Krieg und durch das Wirtschaftswachstum. Seither haben wir eine Verdrängung aller Zusammenhänge aus dem Zweiten Weltkrieg und das Bild der Schweiz mit ihrer Aktivdienstgeneration (Anm. d. Red: Auch Igel- oder Reduit-Mentalität genannt. Benannt nach der Alpenfestung Reduit, die nach 1940/1941 zentraler Teil der Schweizer Abwehrstrategie wurde).
Wenn das Wissen da war, warum haben die Berichte über die Schweiz als Finanzdrehscheibe für Nazideutschland so eingeschlagen?
Es war bekannt, dass Bührle an die Deutschen lieferte und nicht in erster Linie an die Schweizer Armee. Dass es enge Geschäftsbeziehungen gab, dass Schweizer Unternehmer auch Tochtergesellschaften in Deutschland hatten, integriert in das Konzentrations- und Zwangsarbeitssystem. Über die Flüchtlingspolitik gab es eine Untersuchung zur Rolle der Bundesbehörden: der Ludwig Bericht, der 1957 schubladisiert wurde. Danach begann man abzustreiten, was man längst wusste.
Es gab den Spruch: Die Schweizer arbeiten sechs Tage die Woche für Hitler und beten am Sonntag für den Sieg der Alliierten.
Weshalb war das so?
Wegen des Kalten Kriegs. Es ging auf Kosten einer kulturellen Auseinandersetzung im Land, die ja durch 1968 einen gewaltigen Schub erhielt. Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre berichtete die Presse über die Goldtransaktionen. Ansätze waren da, aber es gab riesige unterbelichtete Bereiche. Das Mandat der Bergier-Kommission, die Ende 1996 eingesetzt wurde, zielte darauf ab. Nachhaltig.
Gerade die Aktivdienstgeneration blickte kritisch auf die Bergier-Kommission. Woran machen Sie fest, dass die Arbeit der Kommission nachhaltig war?
An den Resultaten wie an ihrer Resonanz. (…) Mit der Bergier-Kommission ist Bewegung reingekommen, was die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg anbelangt. Sie macht es möglich, sich die Zukunft neu vorzustellen.
Wie meinen Sie das?
Wenn die Schweiz sich als Sonderfall sieht, der Profite macht mit allem, dann kann sie gut mit einem Reduit-Mythos leben. Wenn aber Friede, Freiheit, Sicherheit, Schutz von Menschenrechten eine europäische Aufgabe ist, muss sich die Schweiz neu orientieren. Es ist wichtig, zu sehen, wie (sie damals, …) enorme Schwierigkeiten hatte, sich auszurichten. Es gab Anpassungen: Dass man die Waffen liefert für den Aggressor, das Gold des Aggressors kauft, dass man die Flüchtlinge als Opfer des Aggressors an der Grenze zurückweist. Dass da Sachen passierten, die man nicht wiedergutmachen kann.
Das Gespräch führte Christine Wanner.