55 ehemalige Diplomaten haben sich in einem gemeinsamen Schreiben schockiert gezeigt über «das Schweigen und die Passivität» der Schweiz zu den Kriegsverbrechen Israels in Gaza. Sie fordern sofortige Massnahmen gegen das Land. Aussenminister Ignazio Cassis müsse schärfer gegen die israelische Regierung vorgehen und sich für die Einhaltung des Völkerrechts einsetzen. Der Direktor der Schweizer Friedensstiftung Swisspeace, Laurent Goetschel, beobachtet die Lage im Nahen Osten schon lange. Er ordnet die Forderungen der Ex-Diplomaten ein.
SRF News: Welche Bedeutung hat dieser Appell?
Laurent Goetschel: Ich sehe das nicht als Misstrauensvotum. Ich sehe das jedoch als tiefer Ausdruck von Sorge. Besorgnis über das, was vor Ort geschieht und dass die Schweiz relativ stumm ist.
Erachten Sie die Forderungen als berechtigt?
Insgesamt finde ich die Richtung der Forderungen durchaus berechtigt. Über Einzelheiten kann man sich immer streiten. Aber die Tatsache, dass unter humanitären Gesichtspunkten zurzeit in Gaza Grauenhaftes geschieht und dass die Schweiz sich dazu verhalten gibt beziehungsweise als Depositarstaat der Genfer Konvention etwas sagen sollte, erachte ich als mehr als berechtigt.
Wie soll die Schweiz sich denn verhalten als neutrales Land, aber eben auch als Depositarstaat der Genfer Konventionen?
Die Neutralität der Schweiz spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, denn wir haben es völkerrechtlich gesehen aus Schweizer Perspektive nur mit einem Staat zu tun: Israel. Die sogenannten besetzten palästinensischen Gebiete hat die Schweiz bisher als Staat nicht anerkannt.
Gerade weil ein Staat neutral ist, muss er sich zu Fragen des humanitären Völkerrechts äussern.
Es geht somit die Haltung der Schweiz zu sehr wichtigen Sachfragen des humanitären Völkerrechts und das Verhalten von Staaten in kriegerischen Kampfsituationen. Da kann es aus Gründen der Neutralität kein Schweigen geben – ganz im Gegenteil: Man könnte sogar argumentieren, dass weil ein Staat neutral ist, er sich zu diesen Fragen äussern muss.
Wenn die Schweiz sich klarer positionieren würde, könnte sie dann doch noch ihre guten Dienste anbieten und zwischen den Parteien vermitteln?
Man sollte die Möglichkeiten der Schweiz nicht überschätzen. Bei allem berechtigten Wunschdenken: Zurzeit ist es so und wahrscheinlich schon seit längerem, dass vor allem ein Staat, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, entscheidenden Einfluss auf Israel ausüben können, wenn sie das denn wollten. Doch es gibt auch im Bereich der humanitären Situation vieles zu tun. Da kann man schon einiges bewirken, auch wenn der Friede dann noch nicht «ante portas» steht.
Tut die Schweiz denn Ihrer Ansicht nach genug im Moment?
Man kann ja immer sagen: im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten. In dem Sinne könnte man vermuten, dass die Schweiz viel mehr tut, als man als Aussenstehender mitbekommt. Ich habe jedoch gewisse Zweifel, dass das zutrifft. Mein Eindruck ist vielmehr, dass die Schweiz zurzeit unter ihrer Gewichtsklasse kämpft, also dass sie im Grunde genommen viel mehr tun könnte als dies der Fall ist.
Schon vor anderthalb Jahren wurden die meisten Beziehungen zur palästinensischen Zivilgesellschaft gekappt und vor ein paar Wochen und Monaten fielen auch Entscheidungen, um sozusagen sämtliche Beziehungen im zivilgesellschaftlichen Bereich innerhalb Israels zu kappen. Die Schweiz ist jetzt wirklich nur noch im engen humanitären Feld tätig und das finde ich sehr schade.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.