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Leben in Pandemiezeiten Der mächtige Corona-Staat: Der Anfang vom Ende unserer Freiheit?

Ist 2G legitim, herrscht ein faktischer Impfzwang, und wo wird das alles enden? Antworten vom Politphilosophen Francis Cheneval.

Bald geht die Pandemie in ihr drittes Jahr. Und die geisterhaften Bilder aus der chinesischen Metropole Wuhan mit ausgestorbenen Strassenzügen, die uns anfangs so fremd schienen, wiederholen sich von neuem – mitten in Europa. Zur drakonischen Massnahme des Lockdowns ist ein fein austariertes Bündel an Regelungen gekommen: 3G, 2G, 2G+ machen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben vom Impfstatus und/oder negativen Tests abhängig.

Amsterdam im Lockdown, 19.12.2021
Legende: Amsterdam steckt erneut im Lockdown. Die Massnahme ist auch in unseren Breitengraden zur Ultima Ratio geworden, wenn es darum geht, die Pandemie einzudämmen. Keystone

In der Pandemie entzieht der Staat dem Bürger und der Bürgerin persönliche Freiheiten. Kritiker warnen, dass das so bleiben könnte. Der Politphilosoph Francis Cheneval sah zu Beginn der Pandemie noch keine Anzeichen dafür, dass der Staat seinen Bürgern die Freiheiten dauerhaft entziehen könnte.

Und heute? Für Cheneval hat sich vorab der Charakter der Pandemie verändert. «Die Pandemie ist zu Beginn schicksalhaft über uns hereingebrochen, die Solidarität der Bevölkerung war gross – genauso wie die politische Autorität des Bundesrats.»

Die derzeit geltenden Regeln sind freiheitsermöglichend und damit die bessere Alternative zur totalen Schliessung.
Autor: Francis Cheneval Professor für Politische Philosophie an der Universität Zürich

Je länger die Pandemie andauere, umso stärker rücke nun die Schuldfrage ins Zentrum, sagt der Professor an der Uni Zürich. «Es gibt Spannungen rund um die Frage, wer für das verantwortlich ist und wer für welche Kosten aufkommen soll.»

Mit Blick auf Freiheitsbeschränkungen wie 2G fragt der Philosoph aber nach der Alternative: «Soll das die Absage von Fussballspielen oder die Schliessung von Restaurants sein? Insofern sind die derzeit geltenden Regeln freiheitsermöglichend und damit die bessere Alternative.»

2G-Regel in Restaurant
Legende: Ohne Ausweis und Zertifikat ist derzeit kein Restaurantbesuch möglich. Wird der Staat auch wenn die Pandemie einmal vorbei ist, die Kontrolle über unsere Leben behalten? Keystone

Nichtsdestotrotz: Ausweiskontrollen beim Restaurantbesuch muten in einem freiheitlichen Staat befremdlich an. Eine Frage des Vertrauens, findet Cheneval – vergleichbar mit dem Bezahlen mit der Kreditkarte oder der Weitergabe unserer Gesundheitsdaten. «Die grundsätzliche Herausforderung ist immer, die Legitimität dieses Systems zu garantieren.»

Heisst: Solange die Bürgerinnen und Bürger etwa die Zertifikatspflicht als legitimes Werkzeug zur Pandemiebekämpfung betrachten, nehmen sie Einschränkungen der persönlichen Freiheit hin. Für den Philosophen schrillen die Alarmglocken dann, «wenn die Verhältnismässigkeit zwischen den Massnahmen und der Notlage nicht mehr gegeben ist.»

Angebote bekommen wir im Supermarkt, Empfehlungen von der Wissenschaft: Von der Regierung erwartet man, dass sie die Bürgerinnen und Bürger in einer Notlage mit klaren Worten zu einem bestimmten Verhalten auffordert.
Autor: Francis Cheneval Professor für Politische Philosophie an der Universität Zürich.

Eine scharfe Trennlinie gibt es hier zwar nicht. Doch solange das Gesundheitssystem derart belastet sei, befänden wir uns mitten in der Ausnahmesituation der Pandemie – und die Massnahmen seien verhältnismässig. Die rote Linie zieht Cheneval bei «verstetigten Massnahmen ohne wissenschaftliche Grundlage.»

Bundesrat Cassis vor den Medien in Bern
Legende: Vom Bundesrat werde zu sehr um das Wort «Impfpflicht» herumgeredet, als wenn es eine heisse Kartoffel wäre, sagt Cheneval. Keystone

Auch wenn es der Bundesrat bei Appellen belässt, sich impfen zu lassen, wird der Druck auf Ungeimpfte durch 2G und den weitgehenden Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben drastisch erhöht. So sehr, dass man bereits von einer indirekten Impfpflicht sprechen kann?

Es gelte, Begrifflichkeiten wie «Impfangebot», «Impfempfehlung», «Impfpflicht» oder «Impfzwang» auseinanderzuhalten, sagt der Philosoph. «Zu 2G greift eine Regierung sicher auch im Hinblick darauf, die Impfquote zu erhöhen – es ist ein Anreizsystem.»

Der Unterschied zwischen Pflicht und Zwang

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Moralphilosophisch lässt sich einer Regierung, die den Impfdruck erhöht, für Cheneval kein Vorwurf machen: «Wenn Bundespräsident Parmelin die Bürgerinnen und Bürger auffordert, sich impfen zu lassen, adressiert er an sie zumindest eine informale politische Pflicht.» Diese sei aber von einer rechtlichen Verpflichtung sich impfen zu
lassen zu unterscheiden – und vor allem vom Zwang.

Den Unterschied zwischen Pflicht und Zwang illustriert Cheneval an der Schulpflicht, die eben auch nicht Schulzwang heisse: «Man kann den Kindern ja nicht zwanghaft Bildung verabreichen, sondern es muss durch ein Anreizsystem aufrechterhalten werden. Insbesondere ist die Schulpflicht auch die Pflicht des Staates, ein gutes Schulsystem zur Verfügung zu stellen.»

Analog dazu seien auch Bund und Kantone dazu verpflichtet, das Impfen professionell und effizient zu organisieren, um die Pandemie und die damit einhergehende Notlage einzudämmen. Insofern steht also auch einer (informellen) Impfpflicht – wie bei der Schulpflicht – ein individueller und gesamtgesellschaftlicher Anreiz gegenüber.

Letztlich könne man diskutieren, ob das Impfen eine informelle politische Pflicht wie viele andere sei, die das demokratische System der Schweiz aufrechterhalten, schliesst Cheneval. Dabei könne der Bundesrat das Zepter auch stärker in die Hand nehmen: «Angebote bekommen wir im Supermarkt, Empfehlungen von der Wissenschaft: Von der Regierung erwartet man, dass sie die Bürgerinnen und Bürger in einer Notlage mit klaren Worten zu einem bestimmten Verhalten auffordert.»

Echo der Zeit, 21.12.2021, 18 Uhr ; 

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