Auf den ersten Blick sieht alles normal aus: Bäume, Sträucher, Gras; es liegen Äste, Zweige und Laub am Boden, eine Gruppe Velofahrer fährt zügig vorbei. Ein Stückchen Wald eben, wenn auch ein lautes. Es liegt direkt neben der Autobahn A6 bei Kiesen zwischen Bern und Thun.
Nur ein Damm – er ist rund vier Meter hoch – verrät, dass es hier etwas vor neugierigen Blicken zu verstecken gilt. «Der Damm schützt die Wildtierunterführung. Er fungiert als Barriere. Der Veloverkehr und die Jogger gehen um die Unterführung herum. Das funktioniert relativ gut», so Beat Aeberhard vom Bundesamt für Strassen Astra.
Hauptsache: keine Menschen
Menschen von der Wildtierpassage fernzuhalten, sei das A und O, sagt Antonio Righetti. Der Biologe überwacht im Auftrag des Astra neue Passagen, darunter auch die neue Unterführung in Kiesen. «Am Anfang ist die Neugierde jeweils sehr gross, so gross, dass sich einige Passanten die Unterführung gleich selbst anschauen wollen.»
Dabei bräuchten Wildtiere Ruhe, sonst könne eine Wildtierpassage nicht funktionieren, erklärt Biologe Antonio Righetti. Ruhe? Wie geht das neben einer Autobahn? «Den Verkehr auf der Autobahn können die Tiere einschätzen. Er geht immer am selben Ort durch, ist hinter einem Zaun.» Anders sei das bei Menschen, die zum Beispiel zu Fuss im Wald unterwegs sind. «Sie wählen ihren eigenen Weg und sind darum für die Tiere nicht berechenbar.»
Der Verkehr auf der Autobahn ist für Tiere berechenbar. Menschen nicht.
Menschen fernzuhalten, funktioniere aber nicht überall. Die Konsequenz: Die Tiere meiden die Passage. Um sicherzugehen, hat das Astra in Kiesen eine Informationstafel angebracht, mit der Bitte, die Bedürfnisse der Wildtiere zu respektieren. «An anderen Orten haben wir gute Erfahrungen damit gemacht. Die Leute zeigen mehr Verständnis», so Beat Aeberhard vom Astra.
Ein Rundgang hinter dem Damm, also in der «Tabuzone», zeigt: Die Wildtiere fühlen sich hier bei der Unterführung in Kiesen sicher vor Wanderern, Bikerinnen oder Joggern. Bereits wenige Schritte hinter dem Damm entdeckt Antonio Righetti erste Wildspuren. Er zeigt auf eine Gruppe von Bäumen: «Dort am Boden, wo es kein Laub hat, hat ein Reh geschlafen.»
Bäume, Sträucher, Holz- oder Steinhaufen – das gehöre alles zu einer funktionierenden Passage. «Auf einem offenen Feld fühlen sich Wildtiere nicht wohl», so der Experte. Darum brauche es für Reh, Hase, Marder und Co. Versteckmöglichkeiten. Aber auch die Passage selbst müsse den Bedürfnissen der Tiere gerecht werden: «Sie muss breit genug sein und die Tiere müssen sehen, dass es auf der anderen Seite weitergeht.»
Aber Sträucher, Bäume und Ruhe – all das nütze wenig, wenn die Passage am falschen Ort gebaut werde, so Antonio Righetti. Die Passage müsse beidseitig an tatsächliche Lebensräume anschliessen, so wie in Kiesen. «Hier ist die einzige Stelle zwischen Bern und Thun, bei der die Wildtiere die Möglichkeit haben, überhaupt bis an die Autobahn zu kommen», so der Biologe. Und dank der Wildtierpassage nun auch unter der Fahrbahn durch.