Herdenimmunität, R-Wert, exponentielles Wachstum: Während der Corona-Pandemie schlug die Stunde der Wissenschaft. Epidemiologinnen und Virologen stiegen zu Popstars auf, wie es die «Welt» ausdrückte.
Schulter an Schulter mit Bundesräten, Premiers und Präsidenten sprachen sie zur Bevölkerung. Manchmal etwas gar forsch, wie die Politik befand. Es kam zu Reibereien und Kompetenzgerangel.
Nach der Krise ist vor der Krise
Der Bundesrat arbeitet seit Jahren daran, sich besser für künftige Krisen wie Pandemien zu rüsten. Ein zentraler Punkt: Die Wissenschaft soll über Ad-hoc-Gremien beigezogen werden können, wenn es ihren Rat braucht.
Auf Anregung des Bundes haben die Schweizer Institutionen im Bildungs- und Forschungsbereich nun ein Netzwerk für wissenschaftliche Beratung lanciert. Dies teilen die Akademien der Wissenschaften Schweiz mit.
Was tun, wenns brennt?
Verantwortlich für das Netzwerk ist unter anderem der ETH-Rat. Dessen Präsident Michael Hengartner zieht den Vergleich zur freiwilligen Feuerwehr: «Sie kann auch nicht erst zusammengetrommelt werden, wenn ein Feuer ausbricht.» Rekrutierung und Rollenverteilung müssten abgeschlossen sein, bevor es brennt. Und Szenarien durchgespielt werden, damit die Löscharbeiten möglichst effizient ablaufen.
Zu lasch, zu hart, zu früh, zu spät: Manche Massnahmen, auf die sich Politik und Wissenschaft verständigten, waren umstritten. Der Bundesrat hielt vor einem Jahr etwa fest, dass Schutzmassnahmen in Alters- und Pflegeheimen viel Leid erzeugt, aber auch verhindert hätten.
Keine Empfehlungen an die Politik
Die Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft stehe, erforderten Entscheidungen, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, heisst es in der Medienmitteilung des Netzwerks. Es wolle den Behörden aber keine politischen Empfehlungen abgeben.
Der Bundesrat wird gewählt, um das Land zu führen – das soll keine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern machen.
Im Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik harzte es während der Pandemie wiederholt. Mitglieder der wissenschaftlichen Taskforce kritisierten den Bundesrat öffentlich; die Politik diskutierte darüber, der Taskforce einen Maulkorb zu verpassen. Später hielt sich die Taskforce bewusst zurück.
Stiehlt man sich nun aus der Verantwortung? «Wir liefern Informationen, Fakten, Entscheidungsgrundlagen», sagt Hengartner. «Aber der Bundesrat wird gewählt, um das Land zu führen – das soll keine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern machen.» Letzteres wäre anmassend und auch nicht im Sinne der Demokratie, so der schweizerisch-kanadische Biochemiker und Molekularbiologe.
Das Netzwerk verschreibt sich also selbst Zurückhaltung. Eine Lehre aus den Querelen von damals? Hengartner sieht die Rolle der Wissenschaft darin, als «ehrliche Maklerin» aufzutreten: «In solchen Krisen gibt es unterschiedliche Optionen und Güterabwägungen. Die Wissenschaft hilft, aufzuzeigen, was die Konsequenzen sein könnten.»
Ein bewusster Entscheid
Gerichtet an die eigenen Forschungskolleginnen und -kollegen sagt er aber auch: Sie hätten zwar das Recht, kritisch zu sein. «Sie können aber nicht Makler und Aktivist sein. Sie müssen wählen, ob sie den Bundesrat von ihrer Idee überzeugen wollen oder ob sie in Ruhe beraten und Informationen liefern möchten.»
Die Mitglieder im Netzwerk hätten sich für Letzteres entschieden. Dafür seien sie bereit, sich in der Öffentlichkeit ein wenig zurückzuziehen, schliesst Hengartner.