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Marco Chiesa im Porträt Der nächste SVP-Präsident – auf typischer Tessiner Linie

Wer ist der Mann, der die stärkste Schweizer Partei in die Zukunft führen soll? Ein Porträt des Tessiner SVP-Kandidaten.

Feierabendstimmung in der Wohnung der Chiesas: Die beiden Kinder, zehn und zwölf Jahre alt, sehen fern. Die Frau kocht. Sie hat Deutschschweizer Wurzeln, spricht mit den Kindern Berndeutsch, und gibt ihrem Mann bald Privatunterricht.

Denn der hat ein grosses Ziel und belegt dafür auch Kurse: «Ich will gerne das, was ich im Herzen habe, auch in perfektem Deutsch sagen können.»

Berufstätige Frau und sieben Krippen

Was er im Herzen hat, erzählt der 45-Jährige draussen im lauschigen Garten mit Blick auf den Luganersee. Nur die vielen Mücken trüben die Bilderbuchstimmung. Chiesas Bild einer Bilderbuchfamilie zeigt das traditionelle Familienmodell: die Frau bei den Kindern, der Mann als Ernährer.

Chiesa in Küche
Legende: Der Wahl kann Marco Chiesa gelassen entgegenschauen. Denn der Tessiner Ständerat gilt als neuer SVP-Präsident so gut wie gewählt, da er der einzige offiziell nominierte Kandidat ist. Probleme bereiten könnte ihm aber, dass er in der Deutschschweiz wenig bekannt ist und nicht fliessend Deutsch spricht. Keystone

Das ist bemerkenswert, denn Chiesas Frau arbeitet in einem Pharmaunternehmen. «Meine Frau arbeitet seit 20 Jahren. Sie hat wirklich Freude daran und ich bin auch froh, dass sie sich in der Arbeit verwirklichen kann.» Sich zu verwirklichen, eigenverantwortlich zu handeln, das sind Kernanliegen Chiesas. Das kann auch zu möglichen Widersprüchen führen.

Man muss nicht in der SVP sein oder in einer anderen Partei, um etwas Gutes zu machen.
Autor: Marco Chiesa SVP-Präsidentschaftskandidat

Etwa dass der SVPler im diesbezüglich wenig fortschrittlichen Kanton Tessin in den letzten Jahren insgesamt sieben Kinderkrippen mitgründete. «Ich kümmere mich um die Leute, die hier leben. Ich bin stolz. Man muss nicht in der SVP sein oder in einer anderen Partei, um etwas Gutes zu machen.»

Chiesa geht nicht in die Kirche

Wie wichtig ist Chiesa dabei das C in seinem Namen, für Chiesa, auf Deutsch Kirche? «Ich bin Christ, aber ich praktiziere nicht. Ich habe gewisse Werte, den Sinn, den Menschen zu helfen.» Die Frage, welche diese politischen Werte seien, die er nie über Bord werfen würde, beantwortet er mit einem Wort: «Inländervorrang.» Damit ist Chiesas künftige Parteistrategie klar.

Er wird sich an das geltende Parteiprogramm halten. Chiesa sagt, es gehe nicht darum, blochertreu zu sein oder nicht, sondern SVP-Werte zu leben. Und als Parteipräsident müsse man den Delegierten stets gut zuhören.

Zuhören könne er, sagt einer, der Chiesa gut kennt, weil er lange Zeit mit ihm im Stadtparlament von Lugano und im Kantonsparlament politisierte – wenn auch im Lager der SP: der Politologe Nenad Stojanović.

Nenad Stojanović

Politologe

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Nenad Stojanović ist Politologe an der Universität Genf. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Politiktheorie, der Vergleichenden Politik und der Schweizer Politik. Stojanović ist Parteimitglied der SP, unter anderem sass er in der Tessiner und Schweizer Parteileitung.

«Er ist auf jeden Fall eine Person, mit der man sehr gut diskutieren kann, er hört zu. Aber er hat eine eigene Linie, die man im Tessin als typische SVP-Linie bezeichnen kann», sagt Stojanović.

Im Tessin sind Rechtspolitiker grundsätzlich sensibler für soziale Anliegen, weil die Bevölkerung wegen der vielen Grenzgängerinnen und Grenzgänger einem stärkeren Konkurrenz- und damit Lohndruck ausgesetzt ist.

Nicht bei der Lega, sondern bei der SVP

Stojanović sagt, Chiesa falle dadurch auf, dass er ein eigenständiger Typ sei, kein Opportunist: «Wenn im Tessin einer ein Opportunist ist, das heisst, sehr schnell bestimmte Ämter will, dann geht er zur Lega, und nicht zur SVP.» So gesehen, überwiege bei Chiesa innere Überzeugung statt Karrieredenken.

Er hat eine eigene Linie, die man im Tessin als typische SVP-Linie bezeichnen kann.
Autor: Nenad Stojanović Politologe, SP

Viel Raum für eigene Überzeugungen hätten Parteipräsidenten in der Regel aber nicht, sagt Stojanović. Sie sorgen für die strategische Ausrichtung, sind Symbolfiguren. Für die Tessiner hätte Chiesas Wahl auf jeden Fall Symbolcharakter. Sie wäre ein Zeichen dafür, dass mit ihm ein weiteres politisches Schwergewicht in Bern sitzt, das die kantonalen Anliegen aus dem «FF» kennt.

Rendez-vous, 21.08.20, 12:30 Uhr

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