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Medikamentenmangel Wenn es für Menschen Tiermedikamente gibt

Tabletten vierteln und Tiermedizin für Menschen – beides Symptome des Medikamentenmangels. Besuch in einer Apotheke.

Im Untergeschoss des Spitals Interlaken trifft man überall auf Kartons. Das sei ein Symptom für den Medikamentenmangel, erzählt Enea Martinelli. Er ist Chefapotheker der Berneroberländer Spitäler Frutigen, Meiringen und Interlaken.

Zudem beschäftigt sich Martinelli seit 20 Jahren mit dem Medikamentenmangel. Einerseits führt er selbst eine Homepage, um Mängel zu erfassen, andererseits engagiert er sich im Vorstand von Pharmasuisse, dem Apothekenverband.

Sich aufregen gehört zur Tagesordnung

Hier in Interlaken seien jeden Tag zwei Personen damit beschäftigt, Ersatzprodukte zu suchen, sagt Martinelli. Zu ihnen gehört die Pharmaassistentin Marianne Gehrig: «Es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht aufregen muss. Aber wir können nicht mehr als kämpfen und für Alternativen zu schauen.»

Medikamente.
Legende: Blick in die Interlaker Spitalapotheke mit den Erstatzmedikamenten. Enea Martinelli

Einen Raum weiter sitzt der Apotheker Sandro Giger. Er schaut sich den Medikamentenplan eines Patienten an. Dieser braucht ein Herzmedikament, doch es ist leider nicht verfügbar. Deswegen wird ein Ersatzprodukt aus Deutschland importiert.

Doch bei diesem ist die Dosierung viermal zu hoch. «Wir haben keine andere Lösung, als diese Tabletten zu vierteln. Wir machen das zwar mit einem Gerät, aber ganz genau ist es nicht», sagt Giger

Kuh-Wehenmittel für die Frau

Chefapotheker Martinelli bleibt bei einem Regal stehen und zeigt auf diverse Ersatzprodukte. «Hier haben wir fiebersenkenden Sirup für Kinder aus England importiert, weil es in der Schweiz keinen mehr gab.» Bei diesem Präparat müsse man eine Packungsbeilage auf Deutsch dazulegen. «Das ist dann unsere Verantwortung.»

Enea Martinelli.
Legende: Seit 20 Jahren engagiert sich Enea Martinelli gegen den Medikamentenmangel. Enea Martinelli

Martinelli erzählt von absurden Situationen, die wegen des Medikamentenmangels entstanden seien. So habe der Kantonsapotheker des Kantons Waadt einer schwangeren Frau Wehenmittel für Kühe verschreiben müssen, da das Medikament für Menschen nicht verfügbar war. Es ist bei Tieren und Menschen derselbe Wirkstoff – deshalb konnte das so gemacht werden.

Von Taskforces und Arbeitsgruppen

Der Apotheker sagt, die Taskforce, die der Bund diesen Winter zur Bekämpfung des Medikamentenmangels gegründet hat, habe viel gebracht: «Uns hat sie vor allem von administrativem Aufwand entbunden.»

Die Schweiz wird nicht allein Lösungen finden.
Autor: Enea Martinelli Chefapotheker

Dank der Taskforce können jetzt beispielsweise auch einzelne Blister an Patienten und Patientinnen abgegeben werden, nicht nur ganze Packungen. Der Bund sucht auch langfristig nach Lösungen.

Auch dafür gibt es eine Arbeitsgruppe. Martinelli hofft auf eine europäische Zusammenarbeit: «Die Schweiz wird nicht allein Lösungen finden. Wir müssen mit anderen europäischen Staaten zusammenarbeiten.»

Bis dahin werden in der Spitalapotheke von Interlaken wohl weiterhin jeden Tag zwei Personen nach Lösungen suchen, um den Medikamentenmangel zu umgehen.

Rendez-vous, 29.6.2023, 12:30 Uhr

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