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Missbräuche in der Kirche «Den alten Männern nicht die Definitionsmacht überlassen»

Sexuelle Übergriffe in der katholischen Kirche sollen künftig in jedem Fall zu einer Anzeige führen, wenn es Hinweise auf ein Offizialdelikt gibt. Das hat die Schweizer Bischofskonferenz am Mittwoch an einer Medienkonferenz mitgeteilt. Kirchliche Amtsträger müssen neu Verdachtsfälle auch dann der Justiz melden, wenn das Opfer dies nicht wünscht.

Felix Gmür, der designierte neue Präsident der Bischofskonferenz, sagte: «Die Gefahr, dass ein Täter ein Opfer weiterhin manipuliert, weil er weiss, es gibt keine Anzeige, schadet der Transparenz und möglichen zukünftigen Opfern. Und das will man auf jeden Fall vermeiden. Man will nichts vertuschen und kann auch nichts mehr vertuschen.»

Die IG feministischer Theologinnen hat bereits am Montag eine Stellungnahme publiziert, in der sie den Klerikalismus stark kritisiert. Mitglied Doris Strahm erklärt, warum.

Doris Strahm

Theologin

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Doris Strahm ist Vorstandsmitglied der Interessensgemeinschaft feministischer Theologinnen, die sich für Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche einsetzt.

SRF News: Was ist von Felix Gmürs Aussage zu halten?

Doris Strahm: Es mag sein, dass es so schwerer fällt, etwas zu vertuschen. Diese Massnahme ist sicher zu begrüssen. Aber meiner Meinung nach reicht das eben nicht, um in Zukunft Übergriffe zu verhindern. Es geht nicht nur darum, diese Taten nicht zu vertuschen. Es sollte in erster Linie darum gehen, dass Übergriffe nicht mehr möglich wären. Die Wurzel des Übels sehen wir im Klerikalismus, das heisst auch in den klerikalen Strukturen der römisch-katholischen Kirche, und das wird damit überhaupt nicht angesprochen.

Was konkret stört Sie an den klerikalen Struktur en?

Es gibt in der katholischen Kirche den Stand der Kleriker und den Stand der Laiinnen und Laien, das Volk Gottes. Die Kleriker sehen sich durch das Weihamt in einen höheren Stand des Menschseins versetzt. Deshalb sehen sie sich auch als nahezu unantastbar an.

Der Männerbund des Klerikalismus fördert eine Mentalität der Vertuschung.

Dazu kommt, dass der Klerus in der römisch-katholischen Kirche ausschliesslich männlich ist. Frauen sind von der Weihe ausgeschlossen. Das Pflichtzölibat, das die Priester zu sexueller Enthaltsamkeit verpflichtet und ihnen damit keinen positiven Zugang zur eigenen Geschlechtlichkeit erlaubt, ist der dritte problematische Punkt am Klerikalismus. Das begünstigt den Machtmissbrauch und damit auch Übergriffe in der römisch-katholischen Kirche. Und weil es ein Männerbund ist, auch eine Mentalität der Vertuschung.

Metropoliten und die St. Peter-Statue im Vatikan
Legende: Männerrunde im Vatikan: Der Klerikalismus begünstige Machtmissbrauch und Vertuschung, sagt Doris Strahm. Reuters

Die von Ihnen genannten Punkte sind nicht neu, das hört man seit Jahren. Aber ändern tut sich nichts.

Genau. Wir sagen deshalb einmal mehr: Was jetzt an Massnahmen ergriffen wird, reicht nicht, weil es das Übel nicht an der Wurzel packt. Diese Struktur und die damit verbundenen Probleme werden überhaupt nicht in den Blick genommen. Der Papst hat zwar den Klerikalismus angesprochen in seinem Brief, den er am 20. August veröffentlicht hat. Aber die Konsequenzen, die er daraus zieht – und eben auch die Bischofskonferenz – die gehen nicht in Richtung einer Strukturreform.

Sie stören sich in Ihrer Stellungnahme auch, dass sich der Papst mit Blick auf die Missbrauchsfälle an das ganze Volk Gottes gewandt hat.

Als ich diesen Brief gelesen habe, war ich zuerst erstaunt, dass der Papst tatsächlich den Klerikalismus als Hauptursache für Machtmissbrauch und damit auch sexuelle Übergriffe nennt. Aber die Konsequenz, die er daraus zieht, hat einen bitteren Nachgeschmack und mutet fast zynisch an.

Der Papst nimmt die Kleriker gar nicht mehr in die Pflicht.

Er ruft das ganze Volk zur Umkehr auf und spricht in diesem Appell eben gar nicht mehr die Kleriker an. Also die, welche die ganzen Machtmissbräuche und sexuellen Übergriffe verantworten. Er nimmt sie gar nicht mehr in die Pflicht, sondern richtet sich an das ganze Volk. Als ob wir an diesem massiven sexuellen Missbrauchsfällen beteiligt und dafür mitverantwortlich wären.

Schweizer Garde im Vatikan
Legende: «Die römisch-katholische Kirche ist nicht nur die Amtskirche in Rom.» Reuters

Die logische Konsequenz wäre doch, Sie treten aus der katholischen Kirche aus?

Ja, das wäre die logische Konsequenz. Ich bin mit vielen meiner Kolleginnen im Gespräch und nah an diesem Schritt. Die Diskrepanz zwischen dem, was die meisten von uns unter dem verstehen, was Christentum wäre, entspricht überhaupt nicht dem, was die Amtskirche in Rom vertritt. Es gibt eine unglaubliche Spannung. Und diese auszuhalten, wird immer schwieriger.

Es braucht Unbequeme in dieser Kirche, die den Finger auf die Wunden legen.

Weshalb ich bis heute nicht ausgetreten bin, ist eine Frage, die mich immer wieder quält. Ein Grund – und das kann sich eines Tages ändern – ist: Ich denke, es braucht Unbequeme in dieser Kirche, die Klartext sprechen und den Finger auf die Wunden legen.

Und: Die römisch-katholische Kirche ist nicht nur die Amtskirche in Rom. Ich überlasse diesen alten Männern dort nicht die Definitionsmacht zu sagen, was das Christentum ist. Da, wo ich bin, wo die Befreiungstheologinnen sind, wo die Menschen sind, die für sich Flüchtlinge und eine andere Asylpolitik einsetzen – da ist auch die Kirche. Aber wie lange ich mir das so zurechtlegen kann, um zu bleiben, das weiss ich selber im Moment nicht.

Da ist viel Resignation und auch Frustration zu hören.

Da ist ganz viel Frustration dabei. Es stellt sich wirklich die Frage: Weshalb treten wir nicht aus?

Das Gespräch führte Samuel Wyss.

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