Im Cybermobbing-Prozess um ein 13-jähriges Mädchen aus Spreitenbach, das sich 2017 das Leben genommen hatte, hat das Jugendgericht einen jungen Mann wegen Nötigung und mehrfacher Pornographie verurteilt. Der 17-Jährige hatte das Opfer in sozialen Netzen blossgestellt und erotische Bilder von ihr erpresst.
Nicht einverstanden mit dem Urteil sind die Eltern des verstorbenen Mädchens. Sie hatten verlangt, dass der Jugendliche nicht wegen Nötigung, sondern wegen sexueller Nötigung verurteilt wird. Unterstützt wurden sie von Jolanda Spiess-Hegglin, der Geschäftsführerin des Vereins Netzcourage. Sie hält das Urteil für problematisch.
SRF News: Wie ist Ihre Reaktion auf das Urteil?
Jolanda Spiess-Hegglin: Das Urteil macht mich betroffen. Ich hatte mir erhofft, dass es eine adäquate Strafe gegeben hätte. Ich muss aber betonen: Das Jugendstrafrecht sieht zu Recht nicht vor, dass Jugendliche inhaftiert werden. Ich hätte mir aber einen deutlichen längeren Arbeitseinsatz erwartet.
Das Urteil des Jugendgerichts können Sie also grundsätzlich nachvollziehen?
Nein. Ich hätte mir das Urteil in verschärfter Form gewünscht. Das wäre angesichts des grossen öffentlichen Interesses wichtig gewesen – auch wenn sich ein Gericht nicht instrumentalisieren lassen darf. Das Thema Cybermobbing ist aktuell und weitverbreitet. Es hätte ein härteres Urteil gebraucht, damit sich Opfer ernst genommen fühlen.
Für die Richter ist das Erstellen und Verschicken eines Fotos noch keine sexuelle Handlung, auch wenn das Opfer in Unterwäsche gewesen sei. Der Strafbestand einer sexuellen Nötigung ist offenbar nicht gegeben.
Das verstehe ich nicht. Ich kenne den Fall sehr gut. Im ganzen Kontext wäre dies eine sexuelle Nötigung gewesen. Ich bin aber nicht Juristin und muss dies dem Gericht überlassen. Ich bin einfach enttäuscht.
Wir haben derzeit ein Gesetz für das analoge letzte Jahrhundert.
Sie kämpfen wie die Eltern des Mädchens für einen Strafbestand zu Cybermobbing. Was würde dieser bewirken?
Er hätte eine präventive Wirkung. Und er wäre wichtig, damit sich Opfer und Angehörige ernst genommen fühlen. Man muss darüber sprechen, was Sache ist. Wir haben derzeit ein Gesetz für das analoge letzte Jahrhundert. In der heutigen Zeit, in der Cybermobbing überall verbreitet ist, ist das nicht mehr angemessen. Es hat weitreichende Folgen, genauso wie das normale Mobbing auf dem Pausenplatz.
Dass in der Schweiz mehr über Cybermobbing gesprochen wird, hat viel mit dem Fall Céline zu tun. Wie viel hat der Fall aus Ihrer Sicht ausgelöst?
Sehr viel. Es war sehr wichtig, dass die Eltern an die Öffentlichkeit gegangen sind. Dieses Bedürfnis kann ich absolut nachvollziehen. Denn Cybermobbing ist nicht etwas, das sich im geschlossenen Rahmen abspielt. Alles war öffentlich. Eine öffentliche Aufarbeitung des Falles ist sehr wichtig für uns als Gesellschaft, damit wir endlich über das Phänomen sprechen – seine Auswirkungen können fatal sein. Das ist wichtig für die Prävention.
Was ist das Wichtigste, das in der Schweiz bezüglich Cybermobbing passieren muss?
Cybermobbing und digitale Gewalt müssen im Gesetz verankert werden. Es braucht auf gesetzlicher Ebene eine Handhabe, um mit deren Auswirkungen in der Gesellschaft umzugehen und sie adäquat bestrafen zu können. Sonst bleiben Betroffene weiter machtlos.
Das Gespräch führte Jonathan Fisch.