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Modellrechnung zur Corona-Lage Darum lag die Taskforce falsch bei den Corona-Zahlen

Diese Woche wurde so richtig klar: Die Corona-Fallzahlen sinken. Die Zusatzmessungen aus dem Abwasser in den Kläranlagen zeigen, dass es wohl nicht daran liegt, dass einfach weniger getestet wird, die Abnahme scheint real zu sein. Dies ganz im Gegensatz zu den Modellierungen, welche die Taskforce des Bundes vor rund zwei Wochen präsentiert hatte: Gemäss den Szenarien wären wir aktuell mit stark steigenden Fallzahlen konfrontiert – selbst wenn es keine Lockerungsmassnahmen gegeben hätte. Tanja Stadler ist Vorsitzende der Expertengruppe «Daten und Modellierungen» in der Taskforce. Sie erklärt, warum sich die Modelle nicht bewahrheitet haben.

Tanja Stadler

ETH-Professorin am Departement für Biosysteme

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Die Mathematikerin Tanja Stadler ist Professorin am Departement für Biosystems Science und Engineering an der ETH. Sie entwickelt Methoden, um die Ausbreitung von Virus-Epidemien zu berechnen.

SRF News: Warum sind solche Modellrechnungen eigentlich so schwierig?

Tanja Stadler: Tatsächlich sieht es momentan besser aus, als es die Modelle gezeigt haben. Das freut uns alle sehr. Wichtig ist: Es gibt sehr viele Unsicherheitsfaktoren – auch wenn wir das Virus jetzt schon ein gutes Jahr kennen. Im Vergleich zu anderen Viren und Bakterien ist das aber eine kurze Zeitspanne. Es gibt gewisse Parallelen zum Wetterbericht. Oft trifft er zu, aber manchmal eben nicht.

Es gibt gewisse Parallelen zum Wetterbericht. Oft trifft er zu, aber manchmal eben nicht.

Genauso wie beim Wetter können bei unseren Szenarien Dinge dazwischenkommen, die das System aus dem Gleichgewicht bringen. So ist es schwierig, quantifizieren zu können, wie sich die Massnahmen, die wir zu einem gewissen Zeitpunkt ergreifen, ganz genau auswirken. Grob wissen zum Beispiel alle, dass es in Innenräumen ohne Masken gefährlicher als draussen ohne Maske ist. Aber um wie viel? Diese Zahl wäre wichtig, um genau zu wissen, wie sich das System entwickelt.

Wie «misst» man die Auswirkungen der Massnahmen?

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Um die Auswirkungen der Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus oder von Lockerungsschritten in Übertragungsraten zu übersetzen, arbeiten die Taskforce und Tanja Stadler mit dem international vorgegebenen Oxford-Stringency-Index. Dieser wurde im Laufe der Pandemie entwickelt. Doch Stadler macht darauf aufmerksam, dass der Lernprozess stetig weiterläuft und sich die Variablen damit auch ständig verändern können und der Index damit weiter angepasst werden muss.

Nichtsdestotrotz: Gewisse «unumstössliche» Erkenntnisse gibt es. «Grundsätzlich haben wir gelernt: Sich in schlecht belüfteten Innenräumen ohne Maske zu bewegen, ist im Endeffekt das Problematischste», erklärt die ETH-Professorin. «Das ist quasi das Beste für das Virus, das Negativste für uns.» Sich draussen mit Abstand zu bewegen sei dagegen am wenigsten risikoreich. «Bei allem dazwischen wird es immer kritischer. Wir können das aber nicht auf die letzte Dezimalstelle beziffern.»

Dazu kommt: Was macht es mit den Menschen, wenn wir sagen, die Pandemie könnte sich in diese oder jene Richtung entwickeln? Ich selbst verhalte mich etwa noch vorsichtiger seit ich weiss, dass die Impfung nicht mehr allzu lange weg ist. Denn so kurz vor der Impfung möchte ich nicht noch infiziert werden. Die Modelle können also auch unser Verhalten beeinflussen, und unser Verhalten beeinflusst die Modelle.

Was sagen Sie zum Vorwurf, dass solche Negativszenarien mit Absicht ausgegeben werden, damit die Menschen sich eher an die Massnahmen halten?

Wir als Taskforce und auch die internationale Forschungsgemeinschaft versuchen ganz klar, basierend auf dem heutigen Wissensstand, aufzuzeigen, was wir erwarten. Schon im letzten Sommer hiess es jeweils, wir seien so pessimistisch und die Pandemie sei ja vorbei. Wir machten damals darauf aufmerksam, dass die Fallzahlen leicht steigen und sich das Wachstum im Herbst beschleunigen könnte. Wir tun unser Bestes, um auf Grundlage unserer Modelle objektiv aufzuzeigen, wie sich die Pandemie entwickelt. Im aktuellen Fall würde ich sagen, dass in den Modellen irgendetwas noch fehlt.

Letztlich heisst das aber, dass das Modell nicht funktioniert hat?

Bisher ist die Entwicklung der Fallzahlen tatsächlich besser, als das Modell im Durchschnitt gezeigt hat. Es gibt gewisse Stellschrauben, bei denen man nicht so genau versteht, was passiert ist. Dazu gehört der saisonale Einfluss durch den Frühling, während dem relativ viele Bereiche geöffnet waren. Dazu kommt die Frage, wie sich die Massnahmen in Übertragungsraten übersetzen lassen. Wir haben hier auch viel dazugelernt: Fitnesscenter werden daher nicht einfach pauschal aufgemacht, sondern es gibt Masken, Hygiene und so weiter. Wenn sich gewisse Faktoren aufaddieren und wir etwa bei der Saisonalität etwas zu pessimistisch rechnen, verläuft auch der R-Wert knapp über oder knapp unter 1. Dann kann die Dynamik zwischen steigend oder fallend kippen.

Das Gespräch führte Daniel Theis.

SRF 4 News, 5.5.21, 15 Uhr ; 

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