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Nach Aussagen des NDB-Chefs Ist die Schweiz ein idealer Nährboden für Jugendradikalisierung?

Die Schweiz weise im europäischen Vergleich überdurchschnittlich viele radikalisierte Jugendliche auf, sagt der Direktor des Nachrichtendienstes des Bundes, Christian Dussey, in einem Interview der Tamedia-Zeitungen. Laut dem Forensik-Professor Jérôme Endrass fehlen die Zahlen für präzise Aussagen. Die kleinräumige Schweiz mit ihrer sozialen Kontrolle spreche aber eher dagegen.

Jérôme Endrass

Co-Leiter der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie, Uni Konstanz

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Jérôme Endrass ist seit 2011 Co-Leiter der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie an der Universität Konstanz. Zudem ist er seit 2019 Forschungsleiter im Zürcher Justizvollzug.

SRF News: Ist ein Trend feststellbar, dass sich Jugendliche in der Schweiz besonders einfach radikalisieren?

Jérôme Endrass: Wir können keinen Trend feststellen, was aber nicht heisst, dass es ihn nicht gibt. Genaue Daten liegen uns nicht vor. Unklar ist auch, ob es sich um einen einmaligen Effekt, einen Ausreisser handelt. Dies wäre der Fall, wenn etwa in einem bestimmten Land eine grössere Zelle entdeckt würde. Oder es ist ein robuster Effekt, der über mehrere Jahre anhält. In diesem Fall würde es mich allerdings überraschen, wenn die Schweiz im Vergleich zum europäischen Ausland überdurchschnittlich stark betroffen wäre.

Möglicherweise haben wir das Phänomen noch zu wenig auf dem Radar. Aber in der Forensik sehen wir das Phänomen noch nicht.

Sind die hiesigen Bedingungen zur Radikalisierung von Jugendlichen also nicht besonders günstig?

Das würde ich so nicht sehen. Es wird vielmehr interessant sein, die Hypothese des Geheimdienstchefs in den nächsten Jahren weiterzuverfolgen. Die Schweiz hat etwas Kleinräumiges und gut ausgebildete soziale Strukturen. Der duale Bildungsgang ist da sehr hilfreich, kommen doch Jugendliche und junge Erwachsene so schon sehr früh in Kontakt mit der Arbeitswelt und sind Teil einer sozialen Kontrolle.

Die Schweiz eignet sich deshalb eigentlich nicht besonders gut für Radikalisierung, ist aber auch nicht immun dagegen. Möglicherweise haben wir das Phänomen noch zu wenig auf dem Radar und wissen in fünf Jahren mehr. Aber in der Forensik, der wissenschaftlichen Untersuchung krimineller Handlungen, sehen wir das Phänomen noch nicht.

Braucht es mehr Personal für vermehrte Prävention, wie dies der Geheimdienstchef fordert? Kann so Radikalisierung verhindert werden?

Prävention ist immer klug. Am besten ist es, wenn man Leute daran hindern kann, bevor sie überhaupt zum Problem werden. Ich gehe davon aus, dass die Geheimdienste wissen, wie man diese Mittel klug einsetzt. Es gibt unterschiedliche Formen der Prävention. Indem man etwa unerwünschte Handlungen bereits im Keim erstickt, damit sich Menschen gar nicht richtig radikalisieren können. Oder dass man Menschen früh daran hindern kann, sich noch weiter zu radikalisieren und die Handlungsschwelle zur Gewalt zu überschreiten.

Das Gespräch führte Martina Koch.

SRF 4 News, 22.8.2024, 16:07 Uhr ; 

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